Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Chemie. 167 
  
produkt, das Kotarnin, 1910 unabhängig voneinander A. H. Salvay in England und 
H. Decker und P. Becker sonthetisch bereitet hatten. Die Konstitution des dem Narko- 
tin nahe verwandten Hydrastins, das neben Berberin im Sauerdorn und in der Wurzel 
von Hydrastis Ccanadensis vorkommt, ist durch die Arbeiten von W. Roser und M. Freund 
1892 aufgeklärt worden. Sein Spaltungsprodukt, das Hydrastinin, erhielt 18995 Paul 
Fritsch auf spnthetischem Wege. Einen Einblick in die Konstitution des Berberins ge- 
währten die 1890 veröffentlichten Arbeiten von W. H. Perkin, die Sonthese führte 
1911 Amé Pictet aus. Den Bau der Korpydalisalkaloide, die teils zum Berberin, teils 
zum Apomorphin in naher Beziehung stehen, hat J. Gadamer aufgeklärt. Das eine 
dieser Alkaloide, das Glauzin, gewann er 1915 aus dem von Amé Pictet sonthetisierten 
Laudanosin, damit den nahen Zusammenhang beider Alkaloide beweisend. 
Die vorstehenden Abschnitte zeigen, welche Fortschritte die TChemie bereits in Er- 
mittlung und Aufhellung der Konstitution und in der Synthese selbst sehr verwickelt zu- 
sammengesetzter Tier- und Pflanzensubstanzen erreicht hat. Aus verschiedenen Stellen 
ging hervor, daß die Untersuchung dieser Substanzen zu verwandten, in der Natur nicht 
vorkommenden Kohlenstoffverbindungen mit ähnlichen Eigenschaften führte. Dazu kom- 
men Ergebnisse von Versuchen, die nur zu dem Zweck ausgeführt wurden, um bestimmte 
Reaktionen kennen zu lernen. So hat man Wege aufgefunden, auf denen man zu zahl- 
losen künstlichen Teerfarbstoffen gelangen kann, so genannt, weil im Steinkohlenteer 
vorkommende aromatische Kohlenwasserstoffe zu ihrer Gewinnung dienten. Ferner 
fanden sich unter den künstlich gewonnenen organischen Substanzen phypsiologisch höchst 
wirksame Heilmittel, Riechstoffe und Süßstoffe. Uberall macht sich das Bestreben der Wissen- 
schaft geltend, uns von der Natur unabhängig zu machen, indem wertvolle Naturstoffe 
künstlich hergestellt oder durch künstlich hergestellte Ersatzstoffe verdrängt werden. Mit 
einigen dieser letzteren Substanzen wollen wir uns zunächst beschäftigen. 
Teerfarbstoffe. Die Zahl der künstlich dargestellten Teerfarbstoffe ist in den 
letzten 25 Jahren ganz außerordentlich angewachsen. Uberaus 
fruchtbar für die Aufsuchung neuer Farbstoffe erwiesen sich die von O. N. Witt 1876 
und von R. Nietzki 1888 aufgestellten Gesetzmäßigkeiten über den Zusammenhang 
zwischen Farbe und Konstitution, ein Gegenstand, über den neuere Forschungen von 
CLiebermann, A. Hantzsch, Hugo Kauffmann u. a. vorliegen. Soweit die tech- 
nische Bedeutung der Teerfarbstoffe in Frage kommt, sind sie in dem Abschnitt über die 
Fortschritte der technischen Themie zu behandeln. Hier muß nur auf einige Farbstoffe bin- 
gewiesen werden, deren Konstitution man ermittelt hat, und die in das Soystem der Kohlen- 
stoffverbindungen eingereiht, dort Lücken ausfüllten oder es erweiterten. 
Die Konstitution des Methylenblaus klärte 1889 August Bernthsen auf. In dem 
1884 von Z. H. Ziegler entdeckten Tartrazin liegt, wie R. Anschütz 1896 bewies, eine 
Substanz vor, die den Pyrazolonring enthält. Die Konstitution des längst bekannten Anilin- 
schwarz gelang es 1909 R. Willstätter im Berein mit seinen Schülern zu ermitteln. 
Der erste sogenannte Schwefelfarbstoff ist das 1893 von dem französischen Chemiker 
Vidal durch Erhitzen von Paraamidophenol und Paraphenylendiamin mit Schwefel 
  
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