Die Organe. $ 105. 371
3. Die Mitglieder des Landtages besitzen das Recht der
freien Meinungsäußerung°®. In England hatte der Grund-
satz, daß ein Parlamentsmitglied wegen seiner Reden außerhalb
des Parlamentes nicht zur Verantwortung gezogen werden könne,
durch die declaration of rights® seine definitive gesetzliche An-
erkennung erhalten. Von hier ging er in die Verfassung der Ver-
einigten Staaten, die französische Verfassung vom 3. September
1791 und die belgische Verfassung? über. Unter dem Einfluß
dieser Vorbilder wurde das Prinzip der Unverantwortlichkeit der
Ständemitglieder auch in die neueren deutschen Grundgesetze auf-
genommen, während es den altständischen Verfassungen Deutsch-
lands fremd war. Eine „Freiheit der landständischen Stimme“
nahmen die Landstände allerdings auch in den Territorien der
Reichszeit in Anspruch; aber diese Forderung bezweckte nur,
Eingriffe des Landesherrn und der von ihm abhängigen Behörden
bei mißfälligen Außerungen der Ständemitglieder, dagegen nicht
das Einschreiten der Gerichte bei strafbaren Handlungen derselben
auszuschließen. Selbst in den neueren Grundgesctzen erfuhr der
Grundsatz der Redefreiheit mannigfache Einschränkungen. Für
den Fall, daß in den Äußerungen ein strafbares Vergehen enthalten
war, wurde die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens entweder
unbedingt? oder wenigstens mit Genehmigung des Landtages?
6 Herrmann, Über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder
der Ständeversammlungen. Arch.Kriminalr. N. F. (1853) 340 ff. Die sogenannte
Unverletzlichkeit der andtagsabgcordneten, Gießen 1853; R. Schleiden, Die
Disziplinargewalt und Strafgewalt parlamentariseher Versammlungen über
ihre Mitglieder, 2 Hefte, Berlin 1879; R. Heinze, Die Straflosigkeit parlamen-
tarischer Rechtsverletzungen und die Aufgabe der Reichsgesetzgebung,
Stuttgart 1879; C. v. Kießling, Die Unverantwortlichkeit der Abgeordneten
und der Schutz gegen Mißbrauch derselben, 2. Aufl, Wien 1885; John,
Art. „Redefreiheit“ in v. Holtzendorffs Rechtslexikon 8 312ff.; L. Fuld,, Die
Immunität der Mitglieder gesetzgebender Versammlungen, im Arch.ÜfE.R.
4 341ff.; G. Seidler, Die Immunität der Mitglieder der Vertretungskörper
nach österreichischem Recht, Leipzig und Wien 1891: E. Sonntag, Der be-
sondere Schutz der Mitglieder des deutschen Reichstags und der deutschen
Landtage gegen Strafverfolgung und Verhaftung, Breslau 1895; Jos. Slädelez;
Über die Immunität der parlamentarischen Rede und Berichterstattung in Z.
f. ges. Strafrechtswiss. 16127 ff.; Martini, Parlamentarische Verantwortlichkeit
(1 98); Schwedler, Parlamentarische Rechtsverletzungen nach deutschem
eichsrecht (1898, Heft 16, d. strafrechtl. Abhandl., herausgeg. von Beling);
E. Hubrich, Die parlamentarische Redefreiheit und Disziplin, Berlin 1899;
Derselbe, Parlamentarische Immunität und Beamtendisziplin (Berlin 1901);
J. v. Muralt, Die parlamentarische Immunität in Deutschland und der Schweiz
(Zürich 1902. Vgl. auch die Kommentare zum StrGB. von Olshausen und
Frank, zu $ 11, StrGB., sowie die unten zu $ 1383 (Immunität der Reichstags-
abgeordneten) zitierte Literatur.
6 Declaration of rights chap. 9.
? Verf. der Ver. Staaten, Art. 1, sect. 6, $ 1, Franz. Verf. vom 3, Sept.
1791, tit. III, chap. I, sect. 5 $ 7, Belg. Verf. Art. 44.
® Sächs. LandtO. vom 12. Okt. 1874 $ 27, Hess. Verf. Art. 83, S.-Weim.
RGG. $ 18, Reuß ä. L. Verf. $ 65, Wald. Verf. $ 68.
» S.-Kob.-Goth. StGG. $ 35, Old. StGG. Art. 131, Schw.-Sondh. LGG.
$ 32, Schaumb.-Lipp. Verf. Art. 17.
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