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Rechte. Dass der Kaiser ein von Bundesrath und Reichs-
tag angenommenes Gesetz zu sanctioniren sich geweigert hätte,
ist noch nie vorgekommen, und so konnten auch die anderen
gesetzgebenden Factoren zu einer solchen Weigerung nicht
Stellung nehmen. Dies scheint dafür zu sprechen, dass der
Kaiser die Sanction für seine verfassungsmässige Pflicht ansieht
und sich kein Veto zuschreibt. Andererseits konnte doch in dem
oben erwähnten Falle?) der Reichskanzler unter Billigung des
Kaisers und, ohne nachher im Bundesrathe Widerspruch zu finden,
die Beförderung einer vom Bundesrathe beschlossenen Gesetzes-
vorlage an den Reichstag im Namen des Kaisers diesem gegen-
über aus materiellen Gründen verweigern. Praktisch war dies
nichts anderes als ein antecipirtes kaiserliches Veto. Mit der
gleichen Berechtigung konnte dasselbe Verfahren auch zur An-
wendung kommen, wenn eine Gesetzesvorlage nach erfolgter An-
nahme durch den Reichstag und Bundesrath seitens des Reichs-
kanzlers dem Kaiser unterbreitet werden sollte, und dann war
das kaiserliche Vetorecht bei der Sanction in vollem Umfange
zur Geltung gelangt.
Bei jetziger Lage der Sache muss die Frage nach der recht-
lichen Existenz eines kaiserlichen Vetos als eine offene betrachtet
werden. Das kaiserliche Veto entspricht der Rechtslogik, es ist
eine Forderung der politischen und staatsrechtlichen Ausgestaltung
des Kaiserthums, welches als eine später eingeschobene Ver-
fassungsformation sich neben und zum Theil auf Kosten der
beiden anderen verfassungsmässigen Organe erst Geltung ver-
schaffen musste. Die Tendenz der Rechtsbildung geht also auf
ein kaiserliches Veto. Erst die Behandlung künftiger Präcedenz-
fälle durch die gesetzgebenden Factoren des Reiches wird aber
einen wirklichen Rechtssatz nach der einen oder der anderen
Richtung entwickeln können. Da nun aber die Rechtsordnung,
28) Vgl. Note 23.