— 359 —
keit gedacht hat, dass aus dem Art. 30 eine Exemtion von der
Zeugnispflicht hergeleitet werden könne. Es ist richtig, dass
durch die StPO. und die CPO. der Art. 30 nicht hat abgeän-
dert werden können (Art. 78 RV.), dass also die Auslegung,
welche man damals dem Art. 30 gegeben hat, für die Anwen-
dung desselben nicht von massgebender Bedeutung sein kann.
Die erwähnten Verhandlungen enthalten aber insofern ein wich-
tiges Moment für die Auslegung des Art. 30, als sich annehmen
lässt, dass wenn man damals nicht an die Möglichkeit, den Artikel
auf die Zeugnisablegung zu beziehen, gedacht hat, auch im Jahre
1867 der Gedanke, den Mitgliedern des Reichstags eine Ver-
günstigung in bezug auf die Zeugnispflicht zu gewähren, den ge-
setzgebenden Faktoren ferngelegen hat.
Der Art. 30 bestimmt, dass kein Mitglied des Reichstages
wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines
Berufs getanen Aeusserungen „gerichtlich“ verfolgt werden darf.
Was heisst „gerichtlich“? Heisst es vor Gericht oder vom Ge-
richt? Mit andern Worten, sind die Mitglieder des Reichstages
auch in civilrechtlicher Beziehung von der Verantwortlichkeit für
Ihre Aeusserungen befreit ?
Man hat diese Frage bejaht, indem man die Inanspruch-
nahme im Wege des Civilprozesses als eine gerichtliche Verfol-
gung angesehen hat. Dieses ist nicht richtig. Es entspricht nicht
dem Sprachgebrauch. Man sagt nicht, dass jemand, gegen den
eine Civilklage angestellt wird, gerichtlich verfolgt werde. Ge-
richtlich wird nach dem Sprachgebrauch nur verfolgt, wer von
einem Gerichte, nicht wer vor einem Gerichte in Anspruch genom-
men wird. Man könnte den Einwand erheben, dass doch auch
die Verfolgung durch die Staatsanwaltschaft ausgeschlossen werde.
Die Staatsanwaltschaft gehört aber, namentlich nach der fran-
zösischen Auffassung, zum Gericht im weiteren Sinne. Der Art. 30
ist aus der Verfassung des Deutschen Reichs von 1849 wörtlich
übernommen. Das öffentlich mündliche Verfahren im Strafpro-