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Lebensführung des Individuums kann und muss man auf den Individual-
willen als das principium individuationis seiner Persönlichkeit zurück-
schliessen. Und genau das Gleiche gilt von den Gesamtpersonen, den Ge-
meinwesen und dem sie beseelenden Gemeinwillen; er ist ebenso wenig
sinnlich wahrnehmbar und doch ebenso real sich manifestierend wie der
Individualwille; hier wie dort ist der Wille die Einheit in der Vielheit
der Aktionen, die Essenz der Persönlichkeit, der Träger der Subjektivität.
Das ist die Anschauung der organischen Theorie. Im Grunde sieht auch Kr.
die Dinge so; er kommt sogar zur Konstatierung genau des gleichen Paral-
lelismus. Aber in Konsequenz seiner teleologischen Verirrung muss er nun
überall an die Stelle des zweckbestimmenden Willens den durch Niemand
bestimmten, mystisch im leeren Raume hängenden Zweck setzen. Damit
gerät er bei den Gesamtpersonen, den „Rechtspersonen‘“, wenn möglich,
noch ärger in die Brüche, als bei den Individuen. Auf dem Zweck soll
bei der Gesamtperson die Einheit in der Vielheit, soll ihre Subjektivität
beruhen. Seine gesunde Grundanschauung rettet ihn noch im letzten Augen-
blick vor dem Versinken im Sumpfboden der Destinatärtheorie, auf den er
schon den Fuss gesetzt hat, Aber wie kommt man sonst an den allein
seligmachenden Zweck heran? Da ist es für die fortzeugende Kraft des
proton pseudos charakteristisch, dass Kr. in seltsamem Widerspruch zu seiner
gesamten sonstigen Auffassung, ja zum eigentlichen Grundgedanken seines
ganzen Buches hier plötzlich einen essentiellen Gegensatz zwischen dem
Staat und allen andern „Rechtspersonen* proklamiert. Der Staatszweck sei
freilich ein Problema; „bei keiner andern juristischen Person können ja die
Grenzen ihrer Tätigkeit fraglich sein. Dass es bei dem Staate der Fall ist,
weist auf einen Zweck hin, der Ausdehnung oder Einschränkung seiner
Tätigkeit zulässt“. Also doch der Staat als unicum sui generis, eine Auf-
fassung, die Kr, gerade als den Grundfehler der namentlich im deutschen
Staatsrecht herrschenden Lehre bekämpft! Dabei ist der Fehler dieser
Gegenüberstellung von Staat und allen andern Rechtspersonen handgreiflich ;
denn in Wahrheit stehen sich unter dem von KrABBE£ hier hervorgehobenen
Gesichtspunkte gegenüber: Stiftungen und gewillkürte Körperschaften einer-
seits, die gewordenen Körperschaften und unter ihnen auch der Staat andrer-
seits. Bei jenen haben wir allerdings einen bestimmten Zweck, der ihre
Tätigkeit umgrenzt, weil wir ein zweckbestimmendes Subjekt haben: den
Willen des Stifters, die „ Willkür“ der Gründer. Aber nicht nur beim Staat,
sondern bei allen gewordenen Rechtspersonen „können die Grenzen ihrer
Tätigkeit fraglich sein“, in dem Sinne, dass es bei ihnen an einem a priori
gegebenen Zweck fehlt. Denn das eben ist das Wesen der gewordenen Ver-
bände, dass es für sie kein zweckbestimmendes Subjekt ausserhalb ihrer
selbst gibt; ihre Tätigkeit wird bestimmt von ihrem Gemeinwillen oder von
dem Gemeinwillen höherer, sie selbst mitumfassender Verbände. Deshalb
ist hier der Gemeinzweck das Produkt und das Sekundäre, der Gemeinwille