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tätige geistige Macht kann durch eines Menschen Wort nicht entkräftet
werden. Sie untergräbt, wo sie nicht formell durchbrechen kann, und der
Wille des Gesetzgebers, auf Pergament gemalt oder in steinerne Tafeln
eingegraben, wird, wie die Geschichte aller Zeiten beweist, zum leeren
Schall, wenn er nicht wiederklingt in der Seele der Menschen. Und umge-
kehrt: wenn diese Seele sich in Handlungen, in Taten, in Gewohnheiten
offenbart, donnert die Rechtsüberzeugung ihr Jubeo in die Ohren des Rich-
ters, dem Anathema zum Trotz, das der Gesetzgeber über das Gewohnheits-
recht verhängt haben mag“. Das ist eine prächtige Schilderung der Recht
schaffenden Macht des Gemeinwillens, vor der sich das leblose Schema eines
abstrakten „Zweckes“ von selbst verflüchtigt.
Nur aus solcher prinzipiellen Autonomie des Rechts gegenüber jeder
„obrigkeitlichen“ Gewalt ergibt sich der wahre Begriff des Rechtsstaats.
Zugleich tritt damit die Bedeutung der ominösen Frage nach dem begrifflichen
Kennzeichen des „Staates“ gegenüber andern Gemeinwesen völlig zurück.
Vortrefflich sagt Kr.: „Liegt die Gewalt nicht beim Staat, sondern beim Recht,
dann hat es nur noch untergeordnete Bedeutung, aus den verschiedenen
öffentlich-rechtlichen Personen die eine, welche sich mit dem Namen „Staat“
schmücken darf, herauszusuchen. Auch ohne das zu wissen, können wir
aus der Rechtsordnung die Kompetenz jeder einzelnen öffentlich-rechtlichen
Person ersehen. Und auf die Kompetenz kommt es schliesslich an“. Es ist
der gleiche Gedankengang, in dem ich seit jeher den Souveränitätsbegriff
— selbstverständlich im Sinne der Staats-, nicht der Rechtssouveränität —
als radix malorum bezeichnet habe für alle Nöte des Bundesstaatsproblems,
wie auch für die nahverwandten Probleme des Völkerrechts und der Selbst-
verwaltung. Dass an diesen Nöten vor allem gerade das deutsche Staats-
recht krankt, ist kein Zufall. Kr. hebt treffend den Gegensatz hervor zwi-
schen der Verwirklichung des Rechtsstaats in England und dem kontinen-
talen, namentlich dem deutschen Dualismus von Rechtsstaat und obrig-
keitlicher Gewalt. Sein Buch gipfelt in folgenden Sätzen: „Dieser Dualis-
mus bildet in den meisten, besonders aber in den deutschen Ländern, wo
die Gesellschaft noch in mancher Beziehung unter dem Banne des alten
historischen Königtums steht, die Grundlage des Staatsrechts, ein Dualis-
mus, der in Wirklichkeit ein Gegensatz und ein Widerspruch zwischen der
traditionellen persönlichen Gewalt und der sich mit dem Rechtsstaat bahn-
brechenden Gewalt des Rechts ist. Dieser Gegensatz und dieser Wider-
spruch, in der vorliegenden Schrift näher dargelegt, müssen in der Theorie
und in der Praxis aufgehoben werden; und sie können nur aufgehoben
werden, wenn kein andrer Souverän als Obrigkeit anerkannt wird als das
Recht, wenn also der unpersönlichen Gewalt die ausschliessliche Herrschaft
gesichert ist“.
Berlin. Hugo Preuss.