— 3561 —
Zur Normentheorie.
Von
Dr. A. AFFOLTER in Lausanne.
I.
Der Begriff der Norm ist von Bınping, Die Normen und
ihre Uebertretung, 2. Auflage 8. 7 ff. sehr enge gezogen. BINDING
tauft Normen blos diejenigen Rechtssätze, die der Verbrecher
verletzt. Normen sind danach blos diejenigen Befehle, die sich
an den einzelnen richten und die Unterlassung strafbarer Hand-
lungen zum Gegenstande haben. Als gegensätzlich zu seiner Lehre
bezeichnet BinDing, 8. 60 die These: „Die Norm ist keine be-
sondere Art der Rechtssätze, sie ist Rechtssatz schlechthin ; die
Straf-, Prozess-, Zivilgesetze u. s. w., sie alle sind Normen, nur
mit verschiedenem Inhalte und verschiedener Adresse“. Diese
These ist namentlich von THon, Rechtsnorm und subjektives Recht
und von BIERLING, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe ent-
wickelt und begründet worden; sie kann als die herrschende An-
sicht bezeichnet werden.
Bei der Untersuchung der Frage, ob die Norm bloss eine Art
der Rechtssätze oder der Rechtssatz schlechthin sei, ist es zweck-
mässig, eine weitere Frage, nämlich die, ob die Norm nur Befehl
oder Befehl und Erlaubnis zugleich sei, vorläufig bei Seite zu
lassen.
Gegen die beschränkende Auffassung BINDINGs spricht vor allem