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nichts, sondern sie konstruieren und erklären (qui
distinguit, docet!). Ihre Werke sind in diesem Sinne von der
Aussenwelt unabhängiger als die der Naturwissenschaftler. Das,
was sie schaffen, kann daher nie in demselben Sinne den Gegen-
stand eines wissenschaftlichen Streites bilden, wie etwa die Hy-
pothesen der Naturwissenschaften. Und da ihre Werke weit
mehr von der Persönlichkeit ihrer Schöpfer abhängig sind,
als die der sogenannten „exakten“ Wissenschaften, wird sich
bei ihnen nie die gleiche Einmütigkeit der Anschauungen er-
zielen lassen, wie sie unter den Naturwissenschaftlern herrscht.
Auch die vielgerühmte „objektive“ Forschungsweise der Natur-
wissenschaften ist für sie ein unvollziehbares Postulat.
Durch die hier angeführten Eigenschaften kann die Juris-
prudenz und die ihr in dieser Beziehung verwandten Wissen-
schaften nichts an „Wissenschaftlichkeit“ und Kulturwert verlieren.
Denn wer wollte behaupten, dass z. B. ein auf das zweck-
mässigste erdachte, auf einer ebenso zweckmässigen Konstruktion
des Staatsbegrifies beruhendes Schema der Staatsformen
weniger Wert besitze als etwa die von einem Botaniker auf-
gestellte Einteilung der Pflanzen? Für den Botaniker wäre es
allerdings fatal, wenn in dessen Einteilung etwa die Gruppe
der Schmetterlingsblütler keinen Raum fände. Denn die Schmetter-
lingsblütler sind doch zweifellos auch Pflanzen und es hätte
sicherlich keinen Sinn, den Begriff „Pflanze“ derart zu konstruieren,
dass die erwähnte Gruppe darunter nicht subsumiert werden
könnte Von diesem Standpunkte aus wäre das Schema des
Botanikers „falsch“ (d. h. unzweckmässig). Jeder Streit um die
„Richtigkeit“ und „Falschheit“ hört aber auf, wenn der Jurist
einen Staatsbegriff formuliert, wonach Elsass-Lothringen, die
österreichischen Königreiche und Länder, Kroatien, Finnland
und ähnliche Gebiete, um deren Staatsnatur in der Literatur
fortwährend gestritten wird, zu wirklichen Staaten werden oder
gegebenenfalls nur als Provinzen erscheinen. Denn das, was