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Und ich möchte sogar die am wenigsten umstrittene Domäne
des öffentlichen Rechts, das gesamte materielle und formelle
Strafrecht heranziehen und behaupten, dass die theoretische
Erkenntnis, dass das Rechtsverhältnis zwischen einem recht-
mässig zum Tode verurteilten Verbrecher und dem zu seiner
Hinrichtung berechtigten und verpflichteten Staat ein öffentlich-
rechtliches ist, von ziemlich geringem wissenschaftlichem Wert
ist. Auch nach Abschaffung des Dualismus aus Theorie und
Praxis bliebe ja immer noch ein beträchtlicher Unterschied
zwischen der (weder privat- noch öffentlich-rechtlichen) Ver-
pflichtung, sich auf 20 Jahre einsperren zu lassen und der
(weder privat- noch öffentlich-rechtlichen) Verpflichtung, eine
Wechselschuld zu bezahlen. Ebenso ist keine Gefahr vorhanden,
dass man dann etwa das Deutsche Reich mit einem Turnverein
verwechseln könnte.
Es würde eine grosse Verkennung der Eigenschaft jeglicher
Jurisprudenz als einer eminent praktischen Wissenschaft be-
deuten, wenn man etwa verlangen wollte, dass sich die juristische
Theorie mit einem Schlage von dem Prinzip des Dualismus
emanzipiere. Unser jetziger Staatsorganismus basiert durch-
wegs auf dem Prinzip des Dualismus. Sämtliche Kompetenz-
bestimmungen der hauptsächlich rechtsprechenden Organe —
Zivilgerichte, Straf-, Verwaltungs- Gerichte und Behörden —
beruhen auf diesem Prinzip. Es ist daher die Pflicht der
Theorie, die Praxis, deren Führerin sie sein soll, in ihrer Tätig-
keit zu unterstützen. Es ist aber nicht weniger die Pflicht der
Theorie, sich bewusst zu werden, dass die derzeit bestehenden
Verhältnisse nicht wie etwa die geographische Lage oder
meteorologischen Verhältnisse eines Landes auf natürlichem,
d. h. von menschlichem Einfluss absolut unabhängigem und un-
beeinflussbarem Wege, sondern direkt unter dem Einflusse theo-
retischer Konstruktionen entstanden sind. (Auch hierin kann
der schwerwiegende Unterschied zwischen der wissenschaftlichen