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geschlossen haben. Im Widerspruch mit den Tatsachen steht die
MARTENSsche Ansicht, der ebenfalls HOLTZENDORFF, CALVO u. a.
huldigen, dass die Juden den Verkehr mit andern Völkern als
eine Beleidigung der Gottheit ansahen und daher ein internatio-
nales Recht nicht haben konnten”. Das mosaische Gesetz verbot
den Israeliten nur die Paktierung mit den sieben kananitischen
Völkern, und die alttestamentlichen Propheten eiferten zwar
gegen Bündnisse mit Heiden, bezeichneten jedoch den Abschluss
nicht als unerlaubt, sondern als unklug (Ant. V.R.S. 25). Der
Verkehr mit den Heiden war besonders rege zur Zeit Salomos,
der selbst eine Tochter des Pharao zur Frau nahm und sogar
Altäre für ammonitische und ägyptische Gottheiten bei Jerusalem
errichten liess (Ant. V.R. S. 23 £.).
An der Hand der vorstehenden Ausführungen lässt sich
ermessen, ob MARTENS die erste Periode des Völkerrechts (die
er bis 1648 nach Christus rechnet) mit Recht dahin charakterisiert:
„Während dieser langen Zeit dominierte in den völkerrechtlichen® Be-
ziehungen das Prinzip der vollkommenstenlsolierung und
der Herrschaft physischer Gewalt unter den Staaten.
Nicht bloss die Völker des alten Orients, sondern auch noch die Griechen
und Römer lebten der Ueberzeugung, sis bildeten sie völlig geschlossene
und sich selbst genügende Staaten, die, innerhalb des eigenen Gebietes volle
Betriedigung aller Bedürfnisse findend, eines auswärtigen Verkehrs gar
nicht bedürften. Daher betrachteten sie jedes andere Volk, den stamm-
verwandten Nachbar nicht ausgenommen, wie einen natürlichen Feind, der
bekriegt und geknechtet oder ausgerottet werden müsse“ (I 27).
Die Unvereinbarkeit der Marrensschen Theorie mit den
überlieferten Tatsachen erweckt die Vermutung, dass der Ge-
lehrte seine Ueberzeugung aus der bändereichen Völkerrechts-
? MARTENS I 38, HOLTZENDORFF, Handbuch des Völkerrechts I 188,
Calvo, Le droit international, 4. Aufl., I 4.
® Das Wort „völkerrechtlich“ überrascht in diesem Zusammenhang, da
doch nach MArTEns das Altertum kein Völkerrecht kannte. Ebenso be-
fremdet, dass er die Zeit bis 1648 n. Chr,, in der es nach seiner Ansicht
kein Völkerrecht gab, als erste Periode der Geschichte des Völkerrechts be-
zeichnet.