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„Uebereinstimmung“ der Staaten betrachtet!°, so wird es be-
deutend weniger umfangreich, wie es in manchen Hand- und
Lehrbüchern auftritt},
Da MARTENS behauptet, dass es bis 1648 nach Chr. kein
Völkerrecht gab, so verlegt er naturgemäss in dieses Jahr die
Geburt des ius inter gentes, worüber in meiner Schrift nicht zu
handeln war. Die Fixierung eines bestimmten Jahres wirkt von
vornherein befremdend, denn kein vernünftiger Mensch hat bis-
her behauptet, dass irgend eine andere Rechtsart wie Zivil-,
Straf-, Prozess-, Staatsrecht in einem bestimmten Jahre in die
Welt getreten sei. Sollte allein das internationale Recht eine
Ausnahme bilden, modernen Erfindungen und Entdeckungen ver-
gleichbar, die ein bestimmtes Geburtsdatum besitzen? Der rus-
sische Gelehrte hält, wie erwähnt, für die conditio sine qua non
des Völkerrechts die Erkenntnis von der Notwendigkeit eines
internationalen Verkehrs und seiner rechtlichen Normierung und
10 So auch MARTENS, z. B. 113; ich habe mich zu derselben An-
schauung in meinem Aufsatz bekannt: „Das Seekabel in Kriegszeit“, BÖHMS
2. 17, 171 £.
!ı Die richtige Methode befolgt vortrefflich z. B. F. PFRELS, Das inter-
nationale öffentliche Seerecht der Gegenwart, 2. Aufl, Berlin 1903, der in
nüchterner Weise es vermeidet, dort von einem Recht zu sprechen, wo nur
eine Anzahl abweichender Anschauungen sich nachweisen lässt. An-
lässlich eines Spezialfalles hat M. FLEISCHMANN darauf hingewiesen,
dass die Glieder der Völkerrechtsgemeinschaft wohl darin übereinstim-
men, dass es einen Notstand gibt, aber keine gleiche Anschauung dar-
über haben, was ein Notstand ist. Mithin gibt es einen völkerrecht-
lichen Begriff des Notstandes nicht. „Nur die Rechtsidee des Notstandes
ist gemeinsam, die Ausgestaltung im einzelnen ist verschieden. Und auch
im Völkerrecht gilt nicht schon die Idee des Rechts, sondern die Rechts-
bildung, die sich infolge der Idee im einzelnen vollzogen hat, so wenig wie
schon die necessitas das Recht ist, sondern nur den Grund für eine Rechts-
bildung abgeben kann (Auslieferung und Nacheile nach deutschem Kolonial-
recht, Berlin 1906 S. 55). Allerdings darf man auch nicht zu weit gehen.
Zulässig ist es, aus anerkannten Prinzipien Folgerungen zu ziehen und den
vorhandenen Rechtsstoff! überhaupt zum Gegenstand logischer Gedanken-
arbeit zu machen, die eine Aufgabe der Theorie und nicht der Praxis ist.
Archiv für öffentliches Recht. XXIII. 4. 38