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festgegliederte gerichtliche Behörde abzulösen. Aber es blieb
beim bloßen Versuch. Mag immerhin die rechtsgeschichtliche
Forschung dem Reichskammergericht eine gewisse ideale Bedeu-
tung für die deutsche Rechtsentwicklung zusprechen # — die
praktische Wirksamkeit für die Zeit und in der Zeit blieb ihm
doch versagt!*. Zu sehr war es der wechselnden Gunst der
Reichsstände anheimgegeben, das Kammergericht zu erhalten und
auszubauen; und bald bemächtigte sich seiner der Kampf der
Religionsparteien. Erstinstanzliche Zuständigkeit besaß es fast
keine; die war den ständischen Gerichten vorbehalten. Unter
denen, die ihm in erster Instanz unterstanden, den Reichsunmittel-
baren, bestand ein festes System von Austrägen, Schiedsverein-
barungen. Ursprünglich hatte der König das Recht gehabt, jede
Sache in erster Instanz an sich zu ziehen, das Evokationsrecht.
Die privilegia de non evocando der Territorien setzten es außer
Kraft. In der Berufungsinstanz konnte theoretisch jede Sache an
das Reichskammergericht kommen. Die privilegia de non appel-
lando sorgten dafür, daß dies nicht geschah. So schlossen sich
die Gerichtsbezirke der Landesherren nach oben ab; nach unten
entwickelten sie ihre eigene Organisation, auf die unsre heutige
Gerichtsverfassung zurückgeht.
Bedürfte es noch eines Beweises für die Unzulänglichkeit
der Reichsjustiz, so müßte dieser gefunden werden in der Ent-
wicklung der Veme. Sie bedeutet den Versuch, auf inoffiziellem
Wege eine durchgreifende Gerichtsbarkeit mit Vollstreckung für
das ganze Reichsgebiet zu schaffen und so zu leisten, was zu er-
reichen Sache des Reiches gewesen wäre. Selbst die Kaiser des
14. und 15. Jahrhunderts haben sie unterstützt und so heimlich
vollzogen, was sie in voller Oeffentlichkeit hätten tun müssen.
Hierin lag ein Keim der Entartung, durch die die Veme ein so
schlechtes Andenken hinterlassen hat.
15 So insbesondere SmenD, Das Reichskammergericht I 1911, 8. 112 £.
ı6 Vgl. die Bemerkungen bei TRIEPEL, Die Reichsaufsicht, 1917, 8. 25 f.