— 13 —
gleichen gegebenen Gesetzestext die gleichen Schlußfolgerungen ?
Die Frage stellen, heißt, wie jeder Jurist weiß, sie verneinen.
Nicht nur in der abstrakten Auslegung, nein, auch in der An-
wendung des Gesetzes auf den individuellen, konkreten, in allen
seinen tatsächlichen Elementen eindeutig bestimmten Fall gehen
die Meinungen oft weit, ja, nicht selten geradezu nach den ent-
gegengesetzten Richtungen auseinander.
Aber ist dies nicht nur in der Unvollkommenheit der Juristen
begründet? Ist es nicht vielleicht doch so, daß für jeden ge-
gebenen Fall nur eine einzige Lösung de lege lata die allein ge-
setzmäßige und logisch korrekte, die „objektiv“ richtige ist,
während alle anderen Meinungen falsch, „objektiv“ unriehtig sind’?
Streitende Juristen behaupten dies in der Regel, ebenso wie strei-
tende Theologen, wobei jeder seine Meinung für die objektiv richtige
hält. Juristische und theologische „Dogmatik* sind in dieser wie
in mancher anderen Hinsicht Schwestern. Ein Unterschied liegt
freilich darin, daß der Theologe, und ebenso der Lehrer des Natur-
reehts im alten Sinn, aus ewigen, für alle Völker und Zeiten
bindenden, der positivistische Rechtsdogmatiker dagegen aus Gesetzen
mit zeitlich und örtlich bedingter Geltung deduziert. Aber in
dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Ergebnisse der Deduk-
tion und daher in dem Glauben an die Objektivität des eigenen
Wissens im Gegensatz zur Subjektivität der Meinung anderer sind
beide gleich. Auch ein Gesetz, das in San Marino oder in Liech-
tenstein einen einzigen Tag in Geltung gewesen ist, ebenso ein
bloßer Gesetzesentwurf unter der hypothetischen Annahme seiner
Geltung zu irgendwelcher Zeit an irgendwelchem Ort, bietet die
Grundlage zu der Annahme von der Allgemeingültigkeit der eige-
nen Ansicht, indem der Jurist, der aus jenem Eintagsgesetz
eines Miniaturstaates oder jenem Entwurf etwas deduziert, be-
hauptet, alle Juristen aller Zeiten müßten bei „riehtigem“ juri-
stischem Verfahren sich seiner zwingenden, allgemeingültigen Lo-
gik anschließen.