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in der dogmatischen Jurisprudenz keine Rede sein. Denn Gegen-
stand der Erkenntnis sind hier nicht Objekte der sinnlichen Wahr-
nehmung, sondern — nach der positivistischen Auffassung — Befehle,
die dem erkennenden Bewußtseinnicht anders vermittelt werden können
als durch die Zeichensprache der Worte des Gesetzes. Hier ist
daher, selbst wenn Man stets einen eindeutigen, präzisen Befehl
voraussetzte, der Faktor der Subjektivität bei der Ermittlung
dieses Befehls, bei der Interpretation des „Willens des Gesetzes*
von ungleich größerem Einfluß als bei der Beobachtung und Er-
fassung von Naturvorgängen.
Die Synthesis und die ihr zugrundeliegende Induktion sind
demnach in der Wissenschaft vom Inhalt des rechtlichen Sollens.
ganz wesentlich andere als jene, die der Mathematik und den Natur-
wissenschaften ihren „objektiven* Charakter nicht nehmen. Es
kommt alles auf den Verknüpfungsgrund, auf dieratio
sufficiens der synthetischen Urteile an, welche der Jurist bei
der, Konstruktion“, „Interpretation“ und Anwendung des „positiven“,
d. h. ihm unabänderlich gegebenen Gesetzestextes fällt.
Seitdem unter dem Ansturm der historischen Schule der Glaube:
an eine allen Völkern und Zeiten gemeinsame, allgemeingültige
höhere Rechtsordnung fortgefallen ist, in der man die Verbind-
lichkeit des positiven, geschichtlich bedingten Rechtes verankern.
konnte und die es daher gestattete, jenen Verknüpfungsgrund
unmittelbar im Willen des göttlichen Gesetzgebers oder in den
ewigen Gesetzen eines menschlichen Vernunftrechts zu suchen, hat.
man sich verschiedene Formeln zurecht gemacht, um diesen Ver-
knüpfungsgrund den Juristen anschaulich zu machen. Die histo-
rische Schule führt das Recht auf den „Volksgeist“ zurück. Der
neuere Positivismus stützt sich bei seinen Interpretationen auf den
„Willen des Gesetzgebers“ oder auf den „Willen des Staates“.
Im Kirchenrecht tritt an die Stelle des Staates die „Kirche“, im
Völkerrecht die „Völkerrechtsgemeinschaft“.
Kaum jemals verstand man hiebei ernstlich unter „Geist“ oder