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nur sein können, wenn man sich klarmacht, daß das Problem
des richterlichen Prüfungsrechts zwar gewiß seine verfassungs-
politischen Beziehungen hat, daß es aber doch von Hause aus
ein Problem der Rechtspflege ist. Und wenn man sich weiter
klarmacht, daß die deutsche Rechtsordnung trotz der radikalen
Erneuerung des Verfassungsrechts keine geschichtslose Neubildung
ist, sondern daß es sich bei unserer Entscheidung über das richter-
liche Prüfungsrecht darum handelt, eine feste Tradition entweder
zu wahren oder zu zerbrechen.
Wiewohl nämlich in der Theorie der Streit nie zur Ruhe
gekommen ist, und wiewohl das Reichsgericht niemals ganz präzise
Stellung genommen hat, so haben doch faktisch die deutschen
Gerichtshöfe aller Art bis in die neueste Zeit ausnahmslos ab-
gelehnt, ein formell korrektes Reichs- oder Landesgesetz auf seine
materielle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Das preußische OVG.
z. B. fügt in einem Urteil vom 25. X. 1912 (Bd. 63, 8. 170)
der Unterstellung, daß ein Reichsgesetz die verfassungsmäßigen
Grenzen überschritten habe, einfach ın Parenthese bei: „was der
richterlichen Nachprüfung entzogen ist.“
Diese Haltung der Gerichte schuf einen Zustand, unter dem
möglicherweise gelegentlich die vollkommene Rechtsrichtigkeit
zu kurz kam, der aber vom Standpunkt der Rechtsgewißheit und
-berechenbarkeit einleuchtende Vorzüge hatte: Was einmal in den
(Gtesetzesblättern als Gesetz verkündet war, das mußten Richter
und Bürger gelten lassen. Keine Partei konnte einen Prozeß be-
schweren mit weitläufigen Ausführungen über Sinn und Trag-
weite problematischer Verfassungsartikel, denen angeblich das an-
zuwendende Gesetz widerspreche. Und vor allem: Hier wenig-
stens, den Gesetzen gegenüber, war jener ärgerliche Zustand
der Rechtsverwirrung vermieden, wie er ım Verordnungswesen
zu entstehen vermag, wenn verschiedene Höchstgerichte verschie-
dener Meinung sind über die Gültigkeit eines Rechtssatzes — im
Verordnungswesen oder auch: bei behauptetem Widerspruch zwi-