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von der französischen oder der englischen Auffassung ausgeht.
Ob und wieweit das in der Tat zutrifft, wird sich zeigen. Im
Hinblick darauf aber, daß der ganze Friedensvertrag aus nicht-
deutschen Ideen entsprungen ist und daß als Originaltexte nur
die englische und die französische Fassung anerkannt werden, soll
in den nachfolgenden Untersuchungen die deutsche Literatur durch-
aus in den Hintergrund treten.
I.
So verschieden auch der Begriff des Staates gefaßt wird, so
herrscht doch volle Uebereinstimmung darüber, daß zu ihm in
erster Linie eine Vereinigung von Menschen oder Menschengruppen
gehört. Sie bilden in ihrer Gesamtheit, wie wir in Deutschland
sagen, das „Volk“ oder das „Staatsvolk*. Wenn die französische
Literatur an Stelle des „peuple“ meist die „nation“ treten läßt, so
bedeutet das, wie PRADIER-FODERE bestätigt!, keinen sachlichen
Unterschied. Der Streit, der gegenwärtig in der französischen Lite-
ratur über das Wesen des Staates geführt wird, bezieht sich nicht
hierauf, sondern auf die Fragen, ob das Volk und der Staat identisch
sind und ob ihnen die Natur juristischer Personen beizulegen ist.
Die der Entwicklung des französischen Rechts zugrunde liegende
herrschende Auffassung verneint die erste Frage und bejaht die
zweite. Diese Ansicht faßt DuauvIt in die Formel: „... I’Etat
est la corporation nationale, en tant quelle. est investie de la
souverainete.e La nation est une personne distincte de 1’Etat,
comme elle est distinete des individus qui la composent“?. Er
selbst freilich ist anderer Meinung: er bestreitet die Rechtsper-
ı Trait6 de droit internat. publ,, t. Ier (1885) p. 144: „...ondit..
indifferemment les peuples et les nations, ces termes etant habituellement
pris comme synonymes.“
? Traite de droit constitutionnel. T. Ier (1911) p. 77. S. auch MERIGNHAO,
Traite de droit public internat., Idre partie (1905) p. 108: „En France et
dans beaucoup de pays, on parait s’accorder pour distinguer la nation de
l’Etat, pour voir dans chacun d’eux une entit& distincte.*