Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

162 Viertes Buch. Die Gesetgebung des Dentschen Reiches. 
Verfaffung Gesetz mit Rechtsnorm nicht identificirt hat. Das Vorhandensein des 
Art. 106 beweist im Gegentheil, daß die Verfassung an Rechtsnormen gedacht hat, 
welche nicht Gesetze find. 
Wenn nun das franzöfisch-belgische wie das preußische Staatsrecht die Begriffe 
Gesetz und Gesetzgebung im formellen Sinne aufgefaßt hat, so spricht doch min- 
destens eine starke Vermuthung dafür, daß die Reichsverfassung diesen Worten in 
Art. 5 keinen anderen und namentlich keinen materiellen Sinn beigelegt hat, zumal 
da von Unterlegung eines materiellen Sinnes bei den Verhandlungen im verfassungs- 
berathenden Norddeutschen Reichstage auch mit keiner Silbe gesprochen wurde; val. 
die Verhandlungen am 23. März 1867 (Sten. Ber. 1867, S. 321, Bezold, 
Materialien, I, S. 573). Art. 5, Abs. 1 der Reichsverfassung: „Die Reichsgesetz- 
gebung wird ausgeübt durch den Bundesrath und den Reichstag. Die Ueberein- 
stimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze 
erforderlich und ausreichend“, bedeutet nicht, daß jeder Rechtssatz oder nur ein 
Rechtssatz durch den Bundesrath und den Reichstag gemeinschaftlich erlassen werden 
darf. Auch enthält Abs. 1, wenn dies als richtig angenommen wird, keine Tautologie: 
Abs. 1, daß Bundesrath und Reichstag die gesetzgebenden Factoren des deutschen 
Staatsrechts find, Abs. 2 dagegen, daß einfache Mehrheitsbeschlüsse, nicht zwei 
Drittel oder drei Viertel Mehrheit oder nicht Einstimmigkeit erfordert wird, daß 
ein noch so oft vom Reichstag angenommener Gesetzesvorschlag ohne Zustimmung 
des Bundesrathes kein Gesetz wird, und daß zum Zustandekommen eines Reichs- 
gesetzes nicht noch die Ratihabirung durch die Einzelstaaten oder die Sanction durch 
den Kaiser erforderlich ist. 
Es ist nichts in den Art. 5 hineinzulegen, was nicht durch ihn ausgesprochen 
ist, und nichts Anderes aus ihm zu folgern, als was er ausdrücklich sagt. Es 
kann weder aus Art. 5 abgeleitet werden, daß Rechtssätze stets in der Form des 
Reichsgesetzes erlassen werden müssen, noch, daß Rechtssätze auch in anderer Form 
erlassen werden dürfen 2. 
Andererseits ist es wahr und richtig, daß, mag zz. B. noch die Krone Preußen 
Rechtsnormen ohne gesetzliche Ermächtigung geben können, Reichsverordnungen nur 
auf Grund verfassungs= oder gesetzmäßiger Ermächtigung erlassen werden dürfen. Dies 
folgt daraus, daß Niemand ohne besondere verfassungsmäßige Ermächtigung Namens 
des Reiches oder für das Reich irgend etwas rechtsverbindlich anordnen kann. Die 
Norddeutsche Bundesverfassung ist die Uebertragung von Befugnissen an den Bund 
Seitens der einzelnen Bundesstaaten. Die Bundes= und Reichsverfassung enthalten 
nun nicht bloß specielle Delegationen zum Erlasse von Gesetzen und Verordnungen 
(Art. 50), sondern eine ganz generelle, nämlich in Art. 78 dahin, daß in der Form 
eines verfassungsändernden Reichsgesetzes das Reich anordnen kann, was es will. 
Dagegen fehlt es an einer Delegation, daß das Reich auch ohne Gesetz, nur durch 
Verordnung — daß also der Bundesrath allein oder der Kaiser allein — irgend 
etwas rechtswirksam anbefehlen können. 
Reichsgesetz ist hiernach ohne Rücksicht auf seinen Inhalt ein übereinstimmender 
Mehrheitsbeschluß von Bundesrath und Reichstag, der nach erfolgter Sanction durch 
den Bundesrath vom Kaiser ausgefertigt und verkündigt ist. 
  
. —— — — — — —— — — — — — — —— — — . — — — — —: — 
1 Der Abgeordnete Haberkorn hatte am * Den eingehenden Beweis dafür, daß die 
30. März 1867 im verfassungsberathenden Reichs= Worte Gesetz und Gesetzgebung im Sinne 
tage beantragt: „Zur Verwerfung eines Gesetzes-der Reichsverfassung stets auch formellen Sinn 
vorschlages ist erforderlich, daß zwei Drittheile kaben habe ich in meinem Verordnungsrecht 
der in der Sitzung anwesenden ReichstagsmitS. 187 ff. zu führen versucht. 
glieder für die Verwerfung gestimmt haben“ 
Eten. Ber. S. 467). Der Antrag wurde ver- 
worfen.
	        
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