Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

188 Viertes Buch. Die Gesetzgebung des Deutschen Reiches. 
fassungs-Urkunde so etwas Unverletzliches sei, daß noch ein ganz besonderer Apparat 
und eine ganz besondere Procedur nöthig wäre, um an dieser Verfassungs-Urkunde 
irgend etwas zu ändern. Wir haben uns auch im Preußischen Abgeordnetenhause 
eine Zeit lang mit dieser Frage herumgeschlagen; wir find aber auch endlich zu 
der Auffassung gekommen, daß man eine Verfassung abändern kann wie jedes andere 
Gesetz, selbstredend unter Beobachtung der Cautelen und Maßgaben, welche diese 
Verfassungs-Urkunde selbst vorschreibt — — —. Es ist also in der That zwischen 
einer Verfassungsänderung und einer Gesetzgebung in den Formen und Modalitäten 
der Verfassungsänderung gar kein sachlicher durchgreifender Unterschied, und deshalb 
möchte ich Sie bitten, das Amendement abzulehnen.“ Nachdem noch der heffische 
Bevollmächtigte den Antrag Twesten in der oben angeführten Weise und mit dem 
Bemerken, „daß diesem Antrage ein wirkliches Bedürfniß nicht zu Grunde liegt,“ 
bekämpft hatte, wurde er abgelehnt . Nach diesen Vorgängen wird kaum zu be- 
zweifeln sein, daß nach Ansicht sowohl der Regierungsbevollmächtigten wie 
des Reichstages die Abänderung der Bundesverfassung im Sinne einer Competenz- 
erweiterung als zulässig erachtet wurde und als zulässig erachtet werden muß. Alz 
die erste Niederlage der Twesten'schen Ansicht wird gewöhnlich das Gesetz über die 
Einrichtung des Ober-Handelsgerichts vom 12. Juni 1869 (B.-G.-Bl. 1869, 
S. 201) angesehen?, aber mit Unrecht, weil in der Schöpfung dieses Gerichts keine 
Competenzerweiterung zu finden ist 2. Nachdem über die Frage der sog. Competenz- 
Competenz ein lebhafter wissenschaftlicher Streit entstanden war", wurde fie bei 
Berathung der Novemberverträge wieder in den politischen Vordergrund geschoben. 
In der Verfassung des Deutschen Bundes, die mit Baden und Hessen vereinbart 
wurde, war in Art. 78 anstatt der „Zwei Drittel“ „Drei Viertheile“ gesext. 
In dem Protokolle vom 15. November 1870 (B.-G.-Bl. 1870, S. 650) wurde 
(Ziff. 8) „allseitig als selbstverständlich angesehen, daß diejenigen Vorschriften der 
Verfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Ver- 
hältniß zur Gesammtheit festgestellt find, nur mit Zustimmung des berechtigten 
Bundesstaates abgeändert werden können.“ Bayern forderte zunächst ein Veto 
gegen gewisse Verfassungsänderungen, namentlich des Art. 4. Man verständigte 
sich indeß über die heutige Verfassung 5, der man (in Art. 78, Abs. 1) ihre 
heutige Form gab (Bündnißvertrag vom 23. November 1870, B.-G.-Bl. 1871, 
S. 9). In der mit den süddeutschen Staaten vereinbarten Verfassungsurkunde 
wurde die Frage der Competenz-Competenz dadurch zu einer praktischen und in 
positivem Sinne beantwortet, daß in Ziff. 16 des Art. 4 die Competenz auf die 
Presse und das Vereinswesen ausgedehnt wurde. Bei Berathung der November- 
verträge im Reichstage bemerkte am 5. December 1870 der Abgeordnete Lasker 
u. A.": „— — In Beziehung auf die Kompetenzerweiterung wird zu meiner 
großen Freude durch die neuen Verträge mit Württemberg, Baden und Hessen 
und auch durch den Vertrag mit Bayern ein Streit aus der Welt geschafft, den 
unter dem Namen Kompetenz-Kompetenz der Abgeordnete Windthorst hier im 
Reichstage zu vertreten pflegte und auch heute lebhaft vertreten hat. Denn sowohl 
aus dem Inhalte der Verfassung, wie auch aus dem Umstande, daß thatsächlich in 
den Art. 4 ein neuer Gegenstand gemeinsamer Gesetzgebung und Aufficht ausgenommen 
wird, geht eben hervor, daß alle Faktoren, welche bei dem gegenwärtigen Gesetze 
betheiligt sind, darin übereinstimmen, daß die Ausdehnung der Kompetenz lediglich 
eine Bundesangelegenheit und keine Angelegenheit der Einzelstaaten ist. Wenn — 
Windthorst daraus folgert, daß die einzelnen Bundesstaaten hierdurch mediatifirt 
  
1 Sten. Ber. S. 8319. und gegen Böhlau, Competenz-Competenz, 
2 Seydel, Comm., S. 415, Hänel, Staats-1869, %½ Die Verfassungsänderung 
recht, 1. S. 775. nach Art. 78, 1869, G. Meyer, Grundzüge, 
2 Siehe oben S. 171. S. 54, u. A. m. 
* Für die Comprtenz-ompetenz namentlich * Val. Delbrück, in den Sten. Ber. des 
v. Martitz, Betrachtungen, S. 10, Seydel, Reichstages 1870, II. außerordentliche Session, 
Comm. (1. Aufl.), S. 200 ff., Thudichum, S. 193. 
Berfaftungere t des Norddeutschen Bundes, *Sten. Ber. II. außerord. Sesfion, S. 84, 
S. 85, v. Rönne, Preuß. Staatsrecht, § 209,, Bezold, Materialien, III, S. 174. 
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.