Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

38 Erstes Buch. Entstehung des heutigen Deutschen Reiches. 
gründen ist in Frage gezogen, ob die Südstaaten an der Elbzollablösung und 
anderen vom Norddeutschen Bunde eingegangenen Verbindlichkeiten betheiligt werden 
sollten 1. Diese Fragen find im Jahre 1871 nach Billigkeitsgründen geregelt 
worden. Vom Rechtsstandpunkte aus muß das Deutsche Reich nach allen Rich- 
tungen als der Rechtsnachfolger des Norddeutschen Bundes angesehen werden. 
8 9. Die rechtliche Natur des Deutschen Reiches. 
Wie in der geschichtlichen Betrachtung (oben §§ 7 und 8) nachgewiesen ist, 
beruhen die Existenz und die Befugnisse des Norddeutschen Bundes wie des Deutschen 
Reiches auf einer Delegation der Einzelstaaten. Ihre Gewalten find von den 
Einzelstaaten im Wege der Gesetzgebung übertragen. Aus dem Unstande aber, 
daß die Gewalten des Deutschen Reiches „delegated powers“ find, kann begrifflich 
nicht gefolgert werden, daß die Souveränetät (die höchste Gewalt) bei den dele- 
girenden Staaten verblieben ist; denn eine Delegation kann sogar in dem Um- 
fange erfolgen, daß der delegirende Staat seine gesammte Staatsgewalt für 
immer überträgt. Es wird daher auf den Inhalt und den Umfang der Delegation 
ankommen, um die Frage zu beantworten, ob die Souveränetät dem Deutschen 
Reiche oder den Einzelstaaten oder der Gesammtheit Beider zusteht. 
Nicht bloß Theoretiker, sondern auch Staatsmänner haben den Unterschied von 
Staatenbund und Bundesstaat gemacht. Der österreichische (Präfidial-) 
Gesandte bezeichnete den Deutschen Bund schon in der ersten Sitzung des Bundes- 
tages am 5. November 1816 nicht als Bundesstaat, sondern als Staatenbund. 
König Friedrich Wilhelm IV. forderte in der Proclamation vom 18. März 
1848 (Min.-Bl. f. d. ges. innere Verwaltung, S. 81) die Umgestaltung des 
Deutschen Bundes aus einem Staatenbunde in einen Bundesstaat. Unter einem 
Staatenbunde verstand man ein nur vertragsmäßiges internationales 
Verhältniß mehrerer getrennt und souverän bleibender Staaten zu genau gezeichneten 
und ohne Zustimmung aller Staaten nicht ausdehnbaren Zwecken. Der Staaten- 
bund wurde betrachtet als ein Rechtsverhältniß, nicht als ein Rechts- 
subject, seine Organisation als eine vertragsmäßige, nicht als corporative. Er 
sollte nur Mitglieder (die Einzelstaaten), keine Unterthanen haben; seine Gesetze 
sollten die Einzelstaaten, nicht deren Unterthanen verpflichten. Er sollte kein 
Bundesheer, sondern nur Contingentstruppen, kein eigenes Bundes-, sondern nur 
Societätsvermögen besitzen. Der Bundesstaat dagegen sollte ein selbstständiger 
Staat sein; er sollte eine von den Einzelstaaten losgelöste, selbstständige Rechts- 
persönlichkeit darstellen mit eigenen Organen (Kaiser, Parlament), mit eigenen 
Einrichtungen (Flotte, Kriegsheer, Finanzen, Gerichten), mit einer die Unterthanen 
wie die Einzelstaaten unmittelbar verpflichtenden Gesetzgebung, eigenem Ver- 
mögen u. f. w. 
Die Souveränetät zwischen Bundesstaat und Einzelstaat dachte man sich in 
der Weise getheilt, daß jeder Staat auf seinen Gebieten die Souveränetät besitzt. 
G. Waitz in seiner epochemachenden Abhandlung „Das Wesen des Bundesstaats“ 
(abgedruckt u. A. in der Allgemeinen Kieler Monatsschrift für Wissenschaft und 
Literatur, Jahrg. 1853, S. 494 ff.) vertheilte die Souveränetät zwischen Bundes- 
staat und Einzelstaat wie folgt: Sowohl der Bundesstaat wie der Einzelstaat seien 
wirklich Staat — selbstständig und unabhängig von fremder Gewalt: der Bundes- 
staat auf den ihm zugewiesenen gemeinsamen, der Einzelstaat auf den ihm ver- 
bliebenen Sondergebieten. Bundesstaat wie Einzelstaat besäßen ihre Hoheitsrechte 
als eigene, nicht als abgeleitete. Das Volk stehe im Bundesstaate in gleicher un- 
mittelbarer Beziehung zum Einzelstaate wie zum Gesammtstaate; beide hätten ihre 
Erbsshünge Regierung, ihre selbstständige Volksvertretung, ihre selbstständigen 
erichte. - 
1 Vgl. auch Sten. Ber. des Reichstages 1871, S. 770, 771, 776 a. a. O.
	        
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