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lich ist, daß er die Tagesordnung feststellt oder
wenigstens genehmigt, daß endlich die Beschlüsse
durch seine Unterschrift bindende Kraft erhalten.
Ordentliche Ausschußsitzungen müssen in regel-
mäßigen Zwischenräumen, etwa allmonatlich,
stattfinden. Außerdem können außerordentliche
Sitzungen berufen werden auf Antrag des Arbeit-
gebers oder der Ausschußmitglieder.
In Anbetracht der großen Bedeutung der be-
sprochenen Institution für ein gesundes Arbeits-
verhältnis ist an der alten Zentrumsforderung der
obligatorischen Einführung der Arbeiterausschüsse
in allen größeren gewerblichen Betrieben (mit mehr
als 50 Arbeitern) durchaus festzuhalten. Obligato-
rische Arbeiterausschüsse erscheinen jetzt auch als
notwendige Voraussetzung der demnächst ins Leben
tretenden Arbeitskammern, da diese nach dem Ge-
setzentwurf vom 4. Febr. 1908 zum Teil wenig-
stens aus der Wahl der Arbeiterausschußmitglieder
hervorgehen sollen.
Literatur. Fr. Hitze in Arbeiterwohl, Jahrg.
I. III. IX; ders., Schutz dem Arbeiter 170 ff (1890);
W. Oechelhäuser, Die soz. Aufgaben der Arbeit-
geber (1887); ders., Soz. Tagesfragen (1889);
R. Roesicke, Arbeiterschutz (1887); G. Schmoller,
über Wesen und Verfassung der großen Unter-
nehmungen (1890); M. Sering, A. in der deutschen
Industrie (1890); H. Freese, Das konstitutionelle
System im Fabrikbetrieb (21905); W. Stieda,
Art. „Arbeitsordnung u. A.“ im Handwörterb. der
Staatswissensch. 1 (21898); E. Schwiedland, Der
Gedanke verbindlicher A. in Österreich, in Schmol-
lers Jahrb. für Gesetzgebung usw. XXXII (1908);
A. Esche, Arbeitsordnung und Arbeiterausschuß
(1907); H. Koch, A. (1907). (Koch S. J.)
Arbeiter, ländliche, s. Landarbeiter.
Arbeiterfrage. I. Begriff und Am-
fang. Die „Arbeiterfrage“ ist die Frage der rich-
tigen, den Geboten der Gerechtigkeit und Billig-
keit entsprechenden Stellung und Eingliederung
der Arbeiter im Gesamtorganismus der Gesell-
schaft und des Staats. Dieselbe ist so ein Teil
der „sozialen Frage“. Die Arbeiterfrage im wei-
teren Sinn umfaßt alle in der Land= und Forst-
wirtschaft, im Handwerk, in der Hausindustrie, in
Handel und Verkehr, im Gesindedienst, in persön-
lichen Dienstleistungen usw. gegen Lohn beschäftig-
ten Personen, soweit deren Tätigkeit mehr körper-
licher, mechanischer Art ist. Wir sprechen von einem
„Arbeiterstand“, einer „Arbeiterklasse“ im Gegen-
satz zum Stand der selbständigen Unternehmer,
welche zugleich mit größerem oder geringerem
Kapital arbeiten, während die Arbeiter nichts
als ihre Arbeitskraft einzusetzen haben. Wir reden
von einem „Emanzipationskampf des vierten
Standes“. Wie in der französischen Revolution
(1789) der „dritte Stand“, das Bürgertum
(Bourgeoisie), von der Vorherrschaft des Priester-
und Adelstands sich „emanzipierte“, so drängen
heute der Arbeiterstand und die ihm gleichstehenden
breiten Schichten des Volkes nach dieser politischen
und gesellschaftlichen Gleichberechtigung.
Arbeiter, ländliche — Arbeiterfrage.
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Die Arbeiterfrage ist zuerst akut geworden mit
der industriellen Entwicklung. Hier erst bil-
dete sich der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit
heraus; hier erst wurde die Lohnbeschäftigung
Lebensberuf. Alle idealen, versöhnlichen Züge des
Arbeitsverhältnisses in der Werkstatt: die Gemein-
samkeit in der Arbeit, die Ehre und Freude der
Arbeit, die familiären Beziehungen, die Hoch-
achtung gegen den Lehrherrn und die Hoffnung
auf die baldige Selbständigkeit usw., treten in der
Fabrik zurück. Die steigenden Unterschiede in
Lebenshaltung, Besitz und Bildung mußten auch die
gesellschaftlichen Beziehungen lockern, zur gegen-
seitigen Entfremdung führen. Die manchesterlich-
liberale Wirtschafts= und Staatsauffassung, die
in den 1860er Jahren zur Herrschaft kam, löste
alle Fesseln der rechtlichen und sittlichen Ord-
nung. Gewerbefreiheit, Handelsfreiheit, Vertrags-
(Wucher= usw.) Freiheit und Freizügigkeit gaben
der Übermacht des Kapitals freie Bahn zur Aus-
beutung der Arbeit. Druck erzeugt Gegendruck:
der Liberalismus fand seinen Rächer in der Sozial-
demokratie, die nun ebenso einseitig die Arbeiter
zur Gegenwehr organisierte und mit bitterem Haß
gegen die bestehende Gesellschaftsordnung erfüllte.
So hat der Kampf und auch die bewußte aus-
gleichende Sozialreform zuerst bei der industriellen
Arbeiterfrage eingesetzt; erst von hier aus sind dann
auch die andern „Arbeitnehmer"-Kreise in die Be-
wegung hineingezogen worden.
Deiie industrielle Entwicklung, Maschine und
Arbeitsteilung haben die nationale Gütererzeugung
mächtig gehoben; die Frage ist: ob nicht auf
Kosten der nationalen Verteilung? Das erste Pro-
blem der Arbeiterfrage in wirtschaftlicher Beziehung
ist: wie ist dem Arbeiterstand unter Wahrung der
vollen Arbeits= und Lebenskraft durch Steigerung
der materiellen und geistigen Lebenshaltung der
entsprechende Anteil an den Fortschritten der Pro-
duktion und Kultur zu sichern? In politischer Be-
ziehung ist heute der Arbeiter rechtlich frei und den
übrigen Mitbürgern gleichberechtigt; aber diese
gesetzliche Freiheit und Gleichberechtigung ist wie-
der in Frage gestellt durch eine große materielle
Abhängigkeit. Das politische Problem der Ar-
beiterfrage ist demmach: auch materiell dem Ar-
beiter seine persönliche und politische Freiheits=
sphäre gegen die Eingriffe derjenigen, welche ma-
teriell die Macht haben, zu sichern. Zugleich gilt
es, der mit der allgemeinen Schulbildung, der all-
gemeinen Wehrpflicht und dem allgemeinen glei-
chen (Reichstags-) Wahlrecht gegebenen geistigen
und politischen Gleichberechtigung durch eine
entsprechende geistige Bildung und soziale und
politische Schulung Wahrheit und Inhalt zu
sichern und so die Arbeiter auch als gleichwertigen
Stand in Gesetzgebung, Verwaltung und Recht-
sprechung zur Mitwirkung heranzuziehen. In
sittlicher Beziehung endlich haben sich infolge der
Lockerung der häuslichen und gesellschaftlichen
Bande einerseits und der gesteigerten Konzentra-