Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Abgeordnete wegen ihrer in Ausübung ihres Be- 
rufs gemachten, nach allgemeinen Regeln straf- 
baren Außerungen zur strafrechtlichen Verant- 
wortung gezogen werden könnten, zu verneinen sei. 
Die Richtigkeit dieser Ansicht mag dahingestellt 
bleiben; jedenfalls käme den Abgeordneten bei 
dem Mangel sonstiger positiven Vorschriften der 
§ 193 des Strafgesetzbuchs mit noch größerem 
Recht in einem solchen Fall zunutze als in dem 
unter Nr 2 erörterten Fall außerparlamentarischen 
Auftretens. Es ist nicht zu bezweifeln, daß die 
Redefreiheit mißbraucht werden kann und auch 
mißbraucht worden ist. Dem steht gegenüber, daß 
sie auch zur Aufdeckung und Abstellung von Schä- 
den dienlich gewesen ist, an die bei mangelnder 
Immunität ein Abgeordneter zu rühren nicht ge- 
wagt haben dürfte. Den Nachteilen für einzelne, 
die übrigens nicht schutzlos dagegen sind, steht der 
Nutzen für das Gemeinwohl gegenüber; es scheint 
richtiger, jene mit diesem in den Kauf zu nehmen, 
als mit der Vermeidung jener diesen zu schmälern. 
V. Entschädigung. Die Frage, ob den Ab- 
geordneten für den zur Ausübung ihres Berufs 
erforderlichen Aufwand eine Entschädigung und 
welche zu gewähren sei, ist von der Gesetzgebung 
der verschiedenen Länder im Lauf der Zeit sehr 
verschieden beantwortet worden. In England 
finden sich schon im 14. Jahrh. Bestimmungen, 
welche die bis dahin schwankende Vergütung für 
die Unterhausmitglieder regeln; bereits für die erste 
Hälfte des 17. Jahrh. aber wird als allgemeine 
Sitte berichtet, daß die Abgeordneten auf die Ent- 
schädigung Verzicht leisteten; und nach 1661 soll 
kein Fall mehr vorgekommen sein, daß ein Ab- 
geordneter die Entschädigung liquidiert habe. Dar- 
aus wird von einer Seite das Erloschensein der 
Bezugsberechtigung gefolgert, während von anderer 
Seite das Fortbestehen derselben als nicht dem ge- 
ringsten Zweifel unterliegend bezeichnet wird. In 
Frankreich hat die Gesetzgebung in diesem Punkt 
gewechselt; in den ersten Jahren der Republik 
wurde keine Vergütung gewährt, wohl aber seit 
1795; in der Charte von 1814 wurde der Grund- 
satz der Schadloshaltung wieder fallen gelassen, in 
der Konstitution von 1848 wieder aufgenommen. 
Die aus dem Ende des 18. oder Anfang des 
19. Jahrh. stammenden, unter dem maßgebenden 
Einfluß Frankreichs stehenden Verfassungen ver- 
halten sich entsprechend. Zur Zeit bekennen sich 
sämtliche konstitutionellen außerdeutschen Staaten, 
auch diejenigen, welche wie Nordamerika die 
Verfassungsgrundsätze dem englischen Recht nach- 
gebildet haben, Italien ausgenommen, zu dem 
Grundsatz, daß den Abgeordneten eine Entschädi- 
gung zu gewähren sei. Teils ist der Grundsat allein 
teils auch die Höhe der Leistung verfassungsmäßig 
festgelegt; meistens ist die letztere, weil sie eine 
öftere Anpassung an veränderte Verhältnisse er- 
sfordert, der einfachen Gesetzgebung vorbehalten. 
In Portugal wird die Vergütung für eine Legis- 
laturperiode in der letzten Session der ablaufenden 
Abgeordneter. 
  
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festgestellt, in Osterreich alljährlich durch den Land- 
tag selbst. Nicht bloß was die Höhe der Ent- 
schädigung anlangt, herrscht große Verschiedenheit, 
sondern auch darin, ob eine Bauschalsumme oder 
Tagegelder gegeben werden; dazu kommt meistens 
eine Entschädigung für die Reise zu und von der 
Versammlung. Einzelne Staaten unterscheiden, 
ob die Abgeordneten am Sitz der Versammlung 
ihren ständigen Wohnsitz haben oder nicht, und ge- 
währen im ersteren Fall gar keine oder geringere 
Entschädigung. Sehr oft findet sich die Bestim- 
mung beigefügt, daß die Abgeordneten auf die 
Vergütung nicht verzichten können Italien allein 
gewährt seinen Abgeordneten keine Vergütung, son- 
dern nur freie Fahrt auf den Eisenbahnen und 
Dampfschiffen der vom Staat subventionierten 
Gesellschaften. Daß die Entschädigungen aus der 
Staatskasse gezahlt werden, liegt in der Natur des 
konstitutionellen Systems, indem, wie unter Nr 1. 
auseinandergesetzt ist, die Abgeordneten nicht im 
Auftrag bestimmter Wählerkreise in der Versamm- 
lung erscheinen, sondern als Vertreter des gesamten 
Volkes. Als eine Bestätigung für diese Begrün- 
dung kann es gelten, daß die Diäten für die Land- 
tagsmänner des finländischen Landtags, der auf 
ständischer Grundlage aufgebaut ist, nicht aus der 
Staatskasse gezahlt, vielmehr von sämtlichen Wahl- 
berechtigten des Bezirks in einem vor der Wahl 
zu bestimmenden Betrag liquidiert werden müssen 
(Landtagsordn. von 1869 § 20). — Ganz die- 
selben untereinander abweichenden Erscheinungen 
weisen die gesetzlichen Bestimmungen der deutschen 
Staaten auf. Sämtliche Bundesstaaten gewähren 
Entschädigungen. Preußen (Art. 85) hat die Ver- 
pflichtung „zur Zahlung von Reisekosten und 
Diäten“ verfassungsmäßig festgelegt mit dem Hin- 
zufügen, daß ein Verzicht darauf unstatthaft sei. 
Die Höhe zu bestimmen, ist dem Gesetz vorbehalten. 
Das Gesetz ist erst unter dem 30. März 1873 
ergangen; bis dahin wurden diejenigen Bestim- 
mungen analog angewendet, welche über die Ver- 
gütung für kommissarische Geschäfte in königlichen 
Dienstangelegenheiten gelten. Über die gesetzlichen 
Bestimmungen der einzelnen deutschen Bundes- 
staaten berichten die betreffenden Landesartikel. 
Das Deutsche Reich zahlte bis 1906 den Reichs- 
tagsmitgliedern keine Entschädigung; der Art. 32 
der Reichsverfassung bestimmte vielmehr: „Die 
Mitglieder des Reichstags dürfen als solche keine 
Besoldung oder Entschädigung beziehen.“ Doch 
wurde auf Grund eines Bundesratsbeschlusses 
den Abgeordneten freie Fahrt auf den Eisen- 
bahnen zwischen ihrem Wohnort und Berlin, 
ferner freie Gepäckbeförderung bis zu 50 kg 
für die Dauer der Session sowie acht Tage vor 
Beginn und nach Schluß derselben gewährt. 
Das Verbot des Art. 32 hat verschiedene Aus- 
legung erfahren; einige verstanden es dahin, 
daß nur Zahlungen aus öffentlichen Mitteln un- 
zulässig seien, andere dagegen ganz allgemein, so 
daß auch Privatdiäten, etwa solche aus Partei- 
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