Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Zeit fest, solang das lokale Bürgerrecht seine Be- 
deutung behielt. Die Bevölkerungsschicht der 
Städte aber, die nun auch nicht zu diesen erleich- 
terten Bedingungen das Bürgerrecht erwerben 
konnte oder mochte, nannte man seitdem In- 
sassen oder Beisassen, auch Hinter sassen. 
Sie hatten zwar ebenfalls zu den öffentlichen 
Lasten beizusteuern, entbehrten aber aller politi- 
schen Rechte der Bürger. 
3. Die politische Bedeutung und 
Stellung des Bürgertums erreicht im 
Mittelalter ihren nie wiederkehrenden Höhepunkt. 
In Oberitalien waren seinerzeit die kaiser- 
lichen Rechte mehr und mehr auf die Bischöfe 
übergegangen. Durch ihre Geburt meist dem 
hohen Adel der capitanei angehörig, stießen sie 
auf wenig Widerstand, wenn sie die zunehmende 
Schwäche der Kaisermacht zur Mehrung ihrer 
eigenen Rechte, zur Gründung geistlicher Fürsten- 
tümer in ihrem eigenen Gebiet benutzten. Daß 
die Päpste die italienischen Städte begünstigten, 
war in ähnlicher Weise die Folge gemeinsamer 
Abwehr im gemeinsamen Kampf, wie später der 
Aufenthalt der Päpste in Avignon (1308/88) in 
verschiedener Hinsicht zu Frankreichs Gunsten aus- 
fiel. In demselben Investiturstreit, der die Städte 
so sehr stärkte, erlitt das Lehnswesen große Er- 
schütterung. Die Umstände, welche die Bischöfe 
zu Inhabern der Staatsgewalt gemacht hatten, 
weckten auch den Widerstand der eigenen Unter- 
tanen. Weniger auf dem Land, besonders aber 
in den Städten einigten sich die untergeordneten 
Lehnsleute mit den freien Einwohnern und traten 
unter Benutzung des Kampfes der Kirche mit dem 
Staat der bischöflichen Herrschaft entgegen. In 
Italien war die Stadt Mittelpunkt der Gauver= 
fassung. Sie umfaßte die Sitze einer Lehns- 
aristokratie, welche über die ländliche Bevölkerung 
herrschte. Zeitig entwickelte sich in den Städten 
das städtische Geschäft des Kaufmanns und unab- 
hängigen Handwerkers. Diese niedern städtischen 
Elemente nun vereinigten sich mit der Aristokratie, 
um das bischöfliche Regiment zu beseitigen. Schon 
vor Friedrich I. waren die Landedelleute (dioe-- 
cesani) oft geradezu genötigt worden, in die 
Städte zu ziehen, und je mehr die Macht der 
Kommune wuchs, desto mehr fühlte sich der Land- 
adel der Umgegend bewogen, in ihrer Mitte in 
burgartigen und turmreichen Stadtwohnungen 
seinen Sitz zu nehmen. Durch Ansässigwerden der 
reichsfreien Edlen gewann der niedere Stadtadel, 
der Stand der Ministerialen, an Ansehen und 
Bedeutung. Dieser aus Lehnsträgern der Bi- 
schöfe und anderer Stadtherren bestehende niedere 
Adel, der mit dem freigebornen Teil der Ein- 
wohner, den cives, verbunden den eigentlichen 
Kern der Bürgerschaft bildete und die Schöffen 
und Stadtbeamten stellte, erhielt an dem ein- 
gewanderten Reichsadel einen Rückhalt, den er 
zur Erwerbung und Erblichmachung seiner Lehen 
und Amter und zur Abstreifung und Lockerung 
Bürgerstand. 
  
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seiner Dienstverhältnisse benutzte. Der Stadt- 
adel der alten capitanei und valvassores 
machte schließlich mit den reichsunmittelbaren 
Edelleuten gemeinsame Sache und erwarb sich 
volle Freiheit und Unabhängigkeit von den Bi- 
schöfen, denen die formelle Bestätigung der frei ge- 
wählten Konsuln übrigblieb. (Die Bezeichnung 
mancher städtischen Behörde als Konsuln kam dann 
von Italien über Frankreich nach Deutschland und 
zu den slawischen Ländern des Ostens.) Zu An- 
fang des 14. Jahrh. waren bereits die meisten 
Städte Oberitaliens zu republikanischen Gemein- 
wesen ausgebildet. Wie in Bezug auf das Kaiser- 
tum, sehen wir in Italien auch bei den Städten 
antike öffentlich= und privatrechtliche Erinne- 
rungen auftauchen. In wirtschaftlicher Hinsicht 
zeigte sich da zuerst die Besitzmacht und Geld- 
herrschaft. In politischer Hinsicht war die Spal- 
tung der Aristokratie in Guelfen und Ghibellinen 
dem frühzeitigen Aufkommen einer Demokratie 
günstig. Wir sehen da Mißtrauen und neidischen 
Druck der unteren gegen die vornehmeren, ange- 
seheneren Klassen, der zünftig organisierten Hand- 
werker gegen die Geschlechter, sehen eine prole- 
tarische Auflösung und Verbitterung der unteren 
Klassen und daraufhin das Auftauchen cäsarischer 
Persönlichkeiten. Statt dem überwundenen Adel 
einen neuen beschränkten Platz in der Verfassung 
anzuweisen, stieß man ihn aus. Das Verhältnis 
der ländlichen Bevölkerung zu den städtischen 
Adelshäusern zerriß, sie sank der herrschenden 
städtischen Bevölkerung gegenüber in eine völlig 
untergeordnete Stellung. Der Sturz des Gleich- 
gewichts von Stadt und Land hatte die erwähnte 
staatsrechtliche Folge der sog. Tyrannis. Aus 
einer großen Masse arbeitender Bevölkerung er- 
hob sich in Florenz bezeichnend die Monarchie 
ihres ersten Bankiers. 
In Frankreich ist der Faktor eines mäch- 
tigen Königtums zu beachten. Die Könige unter- 
stützten die Stadtgemeinde gegen die Bischöfe, 
beförderten überhaupt ihre Unabhängigkeit von 
ihren geistlichen und weltlichen Herren, freilich nur, 
um sie von sich abhängig zu machen. Denn dem 
mächtigen Königtum, an der Spitze einer großen 
grundbesitzenden Lehnsaristokratie stehend, gelang 
es, die weitere Entwicklung der Stadtgemeinden 
zu selbständigen Republiken, wie in Italien, zu 
verhindern. Der dritte Stand blieb auch nachher 
noch in Verbindung mit dem Königtum gegen 
seigneurie und féodalité die Seele der états 
généraux. Er hob sich sozial durch Bekleidung 
öffentlicher Amter (besonders die Parlamente er- 
gänzten sich aus ihm), wirtschaftlich und finanziell 
durch die staatliche Wirtschaftspolitik, bis der 
immer schreiendere Widerspruch zwischen Leistung 
und Vorrechten im Jahr 1789 zum Sturz der 
beiden ersten Stände beitrug. 
Wieder anders standen die Dinge in Deutsch- 
land. Die fränkischen Kaiser hatten die Städte 
durch Privilegien begünstigt. Heinrich IV. fand
	        
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