Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Gewährsmann, dem wir hier folgen, A. de Tocque- 
ville (L'ancien régime et la révolution), daß 
in einem dergestalt zentralisierten Staat das platte 
Land stets leer an aufgeklärten und reichen Leuten, 
daß ein solcher Staat stets mit mangelhaftem und 
handwerksmäßigem Landbau verbunden bleibt. 
So gestaltete es sich in Frankreich. Der reich ge- 
wordene Bauer zog in die Stadt und kaufte sich, 
wenn nicht den Adel, so doch ein Amt oder 
Privilegium, und der grundbesitzende Adel, die 
Seigneurs, zogen an den Hof und suchten Hof- 
dienste. Der dann durch das Hofleben und den 
Hofdienst entartete Adel geriet immer tiefer in 
Schulden und drückte seine Hintersassen nur um 
so mehr. Höchstens um sich finanziell zu erholen, 
bezogen die Grundherren zeitweilig ihre Güter, 
die sie zumeist in Parzellen von 10 bis höchstens 
15 ha in Zeitpacht austaten, an sog. Meier, die 
dann ihren Pacht, weil sie nicht oder nur schwer 
zu Geld kommen konnten, zumeist durch die Hälfte 
des Rohertrags entrichteten, wogegen die Guts- 
herren wieder die Saatfrucht, Vieh und Inventar, 
die Hofwehr zu stellen hatten. Selbstredend blie- 
ben alle persönlichen Lasten, Dienste und Gefälle 
bestehen und wurden für sich wieder Gegenstand 
der Verpachtung, was naturgemäß ihren Druck 
noch verschärfte. Zu dieser Uberbürdung mit guts- 
herrlichen Lasten traten nun noch die Staats= und 
Gemeindelasten, die Zehnten an die Kirche und, 
in grellem Gegensatz zu dieser Uberbürdung, dann 
die vielen befreienden Privilegien der Gutsherren, 
des Adels. So konnte es gar nicht ausbleiben, 
daß sofort nach Zusammentritt der Konstituierenden 
Versammlung im Bauernstand der lang und tief 
genährte Haß gegen die privilegierten Stände in 
hellen Flammen aufschlug. Er führte zu der denk- 
würdigen Nacht vom 4. Aug. 1789. Sie schuf 
tabula rasa. Alle aus der Lehns-, Guts= und 
Gerichtsherrlichkeit, aus dem Leibeigenschafts= und 
Hörigkeitsverbande sich ableitenden Lasten, das 
gutsherrliche Besteuerungsrecht, die Zwangs= und 
Bannrechte, die Zehnten aller Art, alle herrschaft- 
lichen Gefälle an Geld, Frucht und Vieh usw. wur- 
den ohne jedwede Entschädigung aufgehoben. Die 
bäuerlichen Besitzer wie die nutzbaren Eigentümer, 
die Erbpächter und Lehnsleute erhielten das volle, 
freie Eigentum an ihrem Besitz, nur die nachweis- 
lichen Zeitpachtgüter oder die auf Lebenszeit, die 
auf drei Vererbungsfälle oder auf 99 Jahre aus- 
getanen Güter blieben davon ausgenommen und 
die Nutzungsrechte derselben besondern Gesetzen 
vorbehalten. Die mit der Lehns= und Gutsherr- 
lichkeit nicht zusammenhängenden oder in einer 
Abtretung und Überlassung von Grund und Boden 
ihren Ursprung habenden, aber urkundenmäßig 
als solche nachzuweisenden Gefälle erklärte das 
Gesetz mit dem 25fachen Betrag für ablösbar, die 
Geldrenten an geistliche und fromme Stiftungen 
nicht ausgenommen. Es nahm ihnen zugleich 
ihren immobilen Charakter als Zubehör berech- 
tigter Güter, so daß sie fortan nicht mit Hypothek 
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik. 
  
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belastet werden konnten, und beugte einer neuen 
permanenten Belastung des Grundeigentums (im 
Code civil) dadurch vor, daß bei Übereignung 
desselben nur auf 30 Jahre unkündbare und un- 
ablösliche Lasten übernommen werden konnten. 
Selbstverständlich fiel das Jagdrecht auf fremdem 
Grund und Boden ohne alle Entschädigung. 
Frankreich war sonach der erste europäische 
Großstaat, welcher, wenn auch in gewaltsamer, in 
vielen Beziehungen nicht zu rechtfertigender Weise, 
aus dem mittelalterlichen Feudalsystem zur völlig 
freien Agrarverfassung zurückkehrte. Unmittelbare 
Folge der Beschlüsse in der Augustnacht 1789 
war die Wiedererstehung eines freien Bauern- 
und landwirtschaftlichen Mittelstandes. Vor der 
Revolution fanden sich über zwei Dritteile des 
Bodens im Eigentum großer Grundherren, teils 
des Adels, der Kirchen und Klöster, teils der 
Magistraturen und großen Kapitalisten. Dieses 
Verhältnis kehrte sich sofort um. Die französischen 
Statistiker berechnen, daß seit der Revolution nicht 
weniger als 6000000 ha allein der kleinen Kultur 
wiedergegeben und ebensoviel der Wüste entzogen 
sind. Nach der sehr umfassenden Vergleichung der 
französischen Zustände vor und nach der Revo- 
lution durch den berühmten Statistiker Moreau 
de Jonnes produzierte Frankreich im Jahr 1700 
an Zerealien 92856000 hl und kamen auf den 
Kopf der Bevölkerung 472 I. Im Jahr 1788 
fand sich beinahe noch dasselbe Verhältnis vor, 
indem 115 816 000 hl produziert wurden und 
auf den Kopf 484 7 kamen; im Jahre 1840 be- 
trug die Produktion schon 182 516 000 hl und 
der Anteil des einzelnen von der erheblich ange- 
wachsenen Bevölkerung 541 7. Der Ertrag des 
Hektars an Zerealien war von 8 hl im Jahr 1780 
60 Jahre später, 1840, auf 13,14 hl gestiegen. 
Der größte bleibende Gewinn aber bestand in der 
Weckung der geistigen Kräfte, der wirtschaftlichen 
Intelligenz. „Wenn man die gegenwärtige Land- 
wirtschaft mit der von 1789 vergleicht“, sagt 
Graf Chaptal in seinem Werk über die französische 
Industrie, „so erstaunt man über die Verbesse- 
rungen, die sie erfahren: Ernten aller Art bedecken 
das Land, ein zahlreicher, kräftiger Viehstand be- 
arbeitet und düngt den Boden. Gesunde und 
reichliche Nahrung, reine und bequeme Wohnungen, 
einfache, aber anständige Bekleidung ist den Be- 
wohnern des Landes zuteil geworden. Das Elend 
ist verbannt, und allgemeiner Wohlstand ist aus 
der freien Disposition über den Ertrag des Bodens 
hervorgegangen.“ Dasselbe Urteil fällen der als 
theoretischer wie praktischer Landwirt hochgeachtete 
Mathieu de Dombasle und der Graf Villeneuve 
Bargemont (Economie politique chrétienne). 
„Wir verkennen nicht“, so schließt dieser seine Be- 
trachtungen, „die hohe Wichtigkeit der Erhaltung 
der Familie durch Erhaltung ihres Grundeigen- 
tums; allein dieser Vorteil würde wohl allzu teuer 
durch Verminderung der landbauenden Bevölke- 
rung zum Vorteil der industriellen erkauft werden.
	        
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