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herrschenden gewerblichen Fortbildungsschulen
hinzu, die mehr an bestimmte Berufe anknüpfen
und zu der Vertiefung und Erweiterung des all-
gemeinen Wissens in Deutsch, Rechnen und For-
menlehre, die Pflege und Ausbildung gewerblicher
Kenntnisse und Fertigkeiten hinzufügen, die den
Lehrlingen der verschiedenen Gewerbe notwendig
sind. Da so gut wie alle Schüler der Fortbildungs-
schulen bereits in den mannigfachsten Berufen den
Tag über voll beschäftigt sind, so können auf den
Fortbildungsunterricht, sei es der allgemeine oder
der gewerbliche, wöchentlich nur wenige Stunden
(meist 2—4, seltener 6) verwendet werden.
Daß diese Schulen dennoch nötig sind, und
zwar auch für Mädchen angesichts der mächtig an-
schwellenden Flutwelle weiblicher Arbeiter, ist so
wenig zu leugnen wie die Tatsache, daß sie durch-
aus auch im Interesse des Staates liegen. Denn
sie befestigen und ergänzen nicht bloß das in der
Volksschule Gelernte, sondern sie geben den Minder-
begabten auch Gelegenheit, vorhandene Lücken aus-
zufüllen und das für die eigentliche Schulzeit vor-
geschriebene Lehrziel noch nachträglich zu erreichen.
Dazu kommt nicht als letztes, daß diese Kurse auch
die bedenkliche Lücke zwischen Volksschule und
Militärzeit ausfüllen und eine kräftige Handhabe
bieten, auf die jungen Menschen — es handelt
sich um mehr als 4 Millionen der deutschen Be-
völkerung — in dem gefährlichsten Stadium ihrer
Entwicklung einen nachhaltigen Einfluß auszuüben
und ihnen beim Eintritt in das volkswirtschaft-
liche Leben in all den Gefahren, die ihrem Geiste
und ihrer Moral drohen, einen Halt zu bieten.
Verwehen doch noch leichter als die erworbenen
Kenntnisse auch die erhaltenen guten Lehren, zu-
mal in einer Zeit, wo schon ganz Jugendliche sich
von der Kirche fernhalten. Unter diesem Gesichts-
winkel wird die Fortsetzung der Volksschulerziehung
durch die Fortbildungsschule zu einer Notwendig-
keit. Und behält man fest im Auge, daß diese Kurse
nicht bloß dem Unterrichte, sondern nachdrücklichst
auch der Erziehung, und wenn irgend möglich,
auch der Körperpflege dienen sollen, so sind sie als
ein überaus wichtiger Faktor im Kampfe gegen
die überhandnehmende Kriminalität der Jugend
zu betrachten.
Hervorgegangen sind die Fortbildungsschulen
schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. aus
den kirchlichen Sonntagnachmittags-Katechesen,
die damals die einzige Möglichkeit der Weiter-
bildung für Kinder der untern Stände bildeten,
und wurden deshalb zuerst „Sonntagsschulen“
genannt. Solche finden wir bereits 1567 in den
Niederlanden erwähnt, und 1569 ordnete sie auch
der Bischof von Samland an. In den protestan-
tischen Teilen Deutschlands wurden sie besonders
durch die Wirksamkeit des Halleschen Pietisten
Spener gefördert und dann im 18. Jahrh., zu-
meist in dessen zweiter Hälfte, durch Verfügungen
der Behörden in denjenigen Staaten eingeführt,
in denen die eigentliche Schulpflicht mit dem
Fortbildungsschulen.
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12. Lebensjahre aufhörte: so 1739 in Württem-
berg, 1756 in Baden, 1763 in Preußen, 1771
in Bayern, 1775 in Österreich. Am strengsten
wurde die Verpflichtung zum Besuche dieser Ver-
anstaltungen in Bayern und Württemberg, und
zwar für beide Geschlechter, durchgeführt, wo u. a.
kein Lehrling Geselle werden konnte, der nicht die
Fortbildungsschule besucht hatte. Noch strenger
ging 1829 Hohenzollern vor, das nicht bloß Ge-
fängnisstrafe auf Versäumnis der Fortbildungs-
schulen setzte — und dabei mußten beide Geschlechter
diese Schulen bis zum 20. Lebensjahre besuchen!
— sondern den Säumigen auch das Recht eines
öffentlichen Gewerbebetriebes und der Verehelichung
vorenthielt.
Den deutschen Fortbildungsschulen entsprachen
in England die 1782 wahrscheinlich von dem
reichen Buchdrucker Rob. Raike in Gloucester ge-
gründeten Sunday-schools, biesich besonders unter
den Protestanten Nordamerikas verbreiteten, aber
auch in Deutschland schnell Eingang fanden (1791
in München, 1799 in Berlin) und hier allmählich
den Namen Kinder= oder Jugendgottesdienste an-
nahmen, da sie sich in ihrer äußern Form eng an
die protestantische Gottesdienstordnung anschließen
und heute ausschließlich der religiösen Unterwei-
sung dienen. Nebenbei bemerkt, gründete solche
Schulen schon im 16. Jahrh. der hl. Karl Bor-
romäus in seiner Erzdiözese Mailand, und der
hl. Johann Baptist de la Salle (f# 1719) machte
sie seinen Schulbrüdern zur Pflicht.
Durch die Kriegswirren zu Anfang des 19.
Jahrh. wurden die Fortbildungsschulen in ihrer
Entwicklung stark beeinträchtigt. Wohl nahmen
sich Städte, Vereine und namentlich die Innungen,
die ihre Lehrlinge zum Schulbesuch verpflichteten,
ihrer kräftig an. Als aber die Gewerbefreiheit ein-
geführt wurde, lösten sich die Innungen meistens
auf, und die wenigen noch bestehenden waren
außerstande, Fortbildungsschulen zu unterhalten.
Auf diese Weise ließen z. B. in Baden 80 % der
Gemeinden die Fortbildungsschulen eingehen, und
die Klagen über ungenügende Vorbildung der
jungen Handwerker und Kaufleute wurden immer
allgemeiner. Da gab die Gewerbeordnung des
Norddeutschen Bundes vom 21. Juni 1869 den
Fortbildungsschulen einen neuen Aufschwung, in-
dem sie in § 120 bestimmte, daß allen jungen
Gewerbetreibenden unter 18 Jahren die Zeit zum
Besuche der Fortbildungsschulen zugestanden wer-
den müsse, und daß die Gemeinden diesen obli-
gatorisch machen könnten. Von privater Seite
griff die 1871 entstandene „Gesellschaft für Ver-
breitung von Volksbildung“ kräftig ein und ver-
anlaßte viele Neugründungen solcher Anstalten.
Eine ausgedehnte Propaganda für die Fortbil=
dungsschulen machte der 1892 gegründete „Deutsche
Verein für das Fortbildungsschulwesen“, der seit
1896 neben seinen öffentlichen Jahresversamm-
lungen auch die Deutschen Fortbildungsschultage
veranstaltet und eine eigene Monatsschrift („Die