Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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deutsche Fortbildungsschule“, Wittenberg, Her- 
rosé, seit 1892), sowie alljährlich ein Handbuch 
(seit 1896) herausgibt. 
Nach dem Kriege von 1870/71 nahm sich in 
Sachsen (Gesetz vom 26. April 1873), Baden 
(18. Febr. 1874; obligatorisch für beide Ge- 
schlechter!), Hessen (16. Juni 1874), Weimar 
(1875), Coburg (27. Okt. 1874), Meiningen 
(22. März 1875), Sondershausen (15. Jan.1876), 
später auch in Gotha (24. Juli 1897), der Staat 
der Fortbildungsschulen an und machte ihren Be- 
such obligatorisch. Er muß ja tatsächlich auch das 
größte Interesse daran haben, daß im Zeitalter der 
Selbstverwaltung und des allgemeinen Wahlrechts 
die Durchschnittsbildung der Bevölkerung eine 
Möglichst hohe ist. In den reich entwickelten Fort- 
bildungsschulen Württembergs war der Besuch 
schon durch das Volksschulgesetz von 1836 obli- 
gatorisch gemacht, und zwar für beide Geschlechter. 
Eine gesetzliche Neureglung erfolgte dort am 
22. März 1895. Waldeck hat die obrigkeitlich ge- 
regelte Pflichtfortbildungsschule für Knaben schon 
seit 1855.— In den Ländern Rudolstadt (1875), 
Altenburg (1889), Reuß j. L. (1900) und Braun- 
schweig (1908) wurde den Gemeinden das Recht 
zugestanden, den Besuch der Fortbildungsschulen 
zu erzwingen. — Ohne landesgesetzliche Reglung 
blieb das Fortbildungsschulwesen außer in Olden- 
burg, den beiden Mecklenburg, Anhalt, Reuß 
äl. L., den beiden Lippe, Elsaß-Lothringen und den 
Hansestädten auch in Preußen, dessen Regierung 
1887 nur in Westpreußen und Posen wegen der 
„polnischen Gefahr“ Fortbildungsschulen in vielen 
Orten einrichtete, sich im übrigen aber darauf be- 
schränkt, die freiwillig gegründeten Anstalten zu 
unterstützen. Freilich legte auch die Gewerbeord- 
nung den gewerblichen Arbeitern unter 18 Jahren 
die Verpflichtung des Fortbildungsschulbesuches 
aus, jedoch in einer Weise, daß das Kammergericht 
in verschiedenen strittigen Fällen entscheiden konnte, 
daß Schulzwang für die preußischen Fortbildungs- 
schulen nicht bestehe; jedenfalls setzte sie keinerlei 
Strafe für Versäumnisse fest, was erst durch die 
Novelle zur Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891 
dadurch einigermaßen ausgeglichen wurde, daß 
die Gemeinden das Recht erhielten, alles zu tun, 
um einen geregelten Schulbesuch zu erzwingen. 
Eine neue Grundlage erhielt sodann das preußische 
Fortbildungsschulwesen durch die „Vorschriften für 
die Aufstellung von Lehrplänen und das Lehrver- 
fahren im Deutschen und Rechnen an den vom 
Staate unterstützten gewerblichen Fortbildungs- 
schulen“ vom 5. Juli 1897. 
Bayern nimmt eine Sonderstellung ein. Sein 
bereits 1771 begründetes Fortbildungsschulwesen 
erhielt ein neues Reglement durch die Verordnung 
vom 12. Sept. 1803, die den Besuch für beide 
Geschlechter obligatorisch machte. Doch haben die 
bayrischen Fortbildungsschulen noch vorwiegend 
den Charakter der alten Sonntagsschulen. Die 
„Werktags-(Volks-, Schulpflicht“ wurde 1856 auf 
ngsschulen. 224 
7 Jahre festgelegt, die Sonntagsschulpflicht bis zum 
16. Lebensjahre gefordert, durch strenge Strafen 
erzwungen und mit einer Entlassungsprüfung ab- 
geschlossen. In Gemeinden, die den Volksschulen 
ein 8. (sakultatives) Jahr hinzufügen, wird die 
Sonntagsschulzeit entsprechend gekürzt. Da die 
Regierung nachdrücklichst für Umwandlung der 
Sonntagsschulen in Fortbildungsschulen mit Tag- 
unterricht eintrat — was durch Kerschensteiner zu- 
erst in München durchgeführt wurde —, so richten 
jetzt immer mehr Gemeinden ihr Fortbildungs- 
schulwesen in diesem Sinne ein. Das gleiche ge- 
schieht mit den schon seit 1792 in Bayern ver- 
tretenen Handwerker-Feiertagsschulen, die nament- 
lich seit 1873 in Werktags-Fortbildungsschulen 
umgeschaffen werden. 
In Osterreich finden sich in den meisten Kron- 
ländern neben Mädchenfortbildungsschulen mit 
allgemeinem Charakter drei Arten von Fortbil- 
dungsgelegenheiten: a) Vorbereitungskurse, die 
den Volksschulunterricht ergänzen sollen; b) ge- 
werbliche Forkbildungsschulen für Lehrlinge beider- 
lei Geschlechts, von deren erfolgreichem Besuch die 
Freisprechung abhängt; c) spezielle Fachkurse, die 
von den Genossenschaften für einzelne Gewerbe 
unterhalten werden. 
So mancherlei aus rein pädagogischen Grün- 
den auch für die Freiwilligkeit dieser Kurse spricht, 
so ist es dennoch unbedingt notwendig, den 
Besuch obligatorisch zu machen, und zwar für 
beide Geschlechter; denn die tägliche Erfahrung 
lehrt, daß nicht bloß ein großer Teil der Jugend 
aus natürlichem Freiheitsdrange jedem weiteren 
Schulbesuche ablehnend gegenübersteht, sondern 
daß es auch genügend bildungsfeindliche und selbst- 
süchtige Arbeitgeber gibt, die selbst den willigen 
Lehrling von den Fortbildungsschulen sernzuhalten 
suchen. Glücklicherweise dringt das Obligatorium 
auch überall vor; in Preußen sind die obligatori- 
schen Schulen vom 1. Dez. 1903 bis 1. Dez. 
1907 von 85% auf 93% gestiegen und dem- 
entsprechend die fakultativen von 15 % auf 7% 
hinabgegangen. Ebenso notwendig ist, daß diese 
Schulen überall in gleicher Weise gegründet wer- 
den. Welche Mißstände sich aus den gegenwär- 
tigen ungeregelten Verhältnissen ergeben können, 
zeigt sich z. B. in den Hauptindustriegegenden 
Preußens, wo sich jene Orte mit Pflichtfortbil- 
dungsschulen von jungen Arbeitern vielfach völlig 
entleeren (wie 1906 aus Opladen gemeldet wurde), 
es sei denn, daß die Fabrikanten sich dazu be- 
quemen, die wöchentlichen Strafgelder für das 
Schwänzen zu übernehmen. So war es möglich, 
daß 1907 in Preußen nur 13 % der arbeitenden 
Jugend (bei 90% der Volksschuljugend) die Fort- 
bildungsschulen besuchten. 
Auch die ländlichen Fortbildungsschulen, die 
in Preußen schon 1876 durch ein Ministerial- 
Zirkularreskript dringlichst empfohlen wurden, 
müßten wesentlich vermehrt werden, wenn auch der 
Unterricht sich bei ihnen auf das Winterhalbjahr 
 
	        
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