225
beschränken kann. In Preußen bestanden 1906
nur 2998 meist kleine Fortbildungsschulen auf
dem Lande mit 42 691 Schülern. — Erfreulicher-
weise gehen nicht bloß immer mehr Städte und
Industriebezirke an die Gründung von Pflicht-
fortbildungsschulen, und zwar auch für weibliche
Handelsangestellte, sondern auch die landwirtschaft-
lichen Arbeiter werden zu ihrem pflichtmäßigen
Besuch herangezogen. Das wurde sogar bereits
gesetzlich geregelt, und zwar 1904 in der Provinz
Hessen-Nassau, die schon seit 1817 ein blühendes
Fortbildungsschulwesen hat und jetzt auch, nach
dem Ermessen der einzelnen Gemeinden, die jungen
Landarbeiter zum Schulbesuch verpflichten kann.
Anfang 1908 wurden in der Provinz Hannover
die einleitenden Schritte getan, um auch dort für
die Landarbeiter die gleichen gesetzlichen Bestim-
mungen zu erlangen. Noch einen Schritt weiter
ging 1906 der Bund der deutschen Frauenvereine,
der bei dem Reichstag und den Einzellandtagen
dahin vorstellig wurde, daß auch die Arbeiterinnen
zum Besuche der Fortbildungsschulen verpflichtet
werden sollten, was allem Anschein nach demnächst
ein neues Reichsgesetz statutarisch verfügen wird.
Der Unterricht in den allgemeinen Fortbil-
dungsschulen wird meist nebenamtlich von Volks-
schullehrern oder Lehrern höherer Schulen erteilt,
denen nur für gewisse Gebiete Fachleute zur Seite
treten. Um die Ausbildung von Lehrern für die
gewerblichen Fortbildungsschulen hat sich der schon
erwähnte „Deutsche Verein für das Fortbildungs-
schulwesen“ sehr verdient gemacht, der seit 1898
alljährlich in Leipzig im Juni und Juli sechs-
wöchige Kurse zur Ausbildung von Fortbildungs-
schullehrern veranstaltet, für die jeder Kursist
60 M zu zahlen hat. Auf diese Weise sind bis
heute an 500 Lehrer aus den deutschen Bundes-
staaten für den Unterricht in den gewerblichen Fort-
bildungsschulen vorbereitet worden. Auch die ver-
schiedeneu Regierungen lassen sich jetzt die Aus-
bildung tüchtiger Fachlehrer angelegen sein. Denn
es hat sich in den Anschauungen über Stellung
und Zweck der Forkbildungsschulen im Laufe der
Zeit ein wesentlicher Umschwung vollzogen: die
allgemeinen Anstalten werden heute vielfach als
nicht ausreichend angesehen, und es wird immer
mehr betont, daß ihr Unterricht auch auf die prak-
tische Tätigkeit des Schülers Rücksicht zu nehmen
und sich eng an das Berufsleben anzuschließen
hat. Auch die allgemeinen Fortbildungsschulen
beginnen daher verschiedentlich einen mehr fach-
gewerblichen Charakter anzunehmen, der das
Interesse der Schüler erhöht, da diese Art von
Unterricht weniger „nach Volksschule schmeckt"
und die Möglichkeit bietet, sich in dem liebgewor-
denen Berufsfache geistig zu vertiefen.
In größeren Orten pflegt man allgemeine und
gewerbliche Klassen nebeneinander einzurichten; in
kleineren sind die allgemeinen Fortbildungsschulen
am besten angebracht, bei denen sich jedoch der
Jeichenunterricht tunlichst den einzelnen Gewerben
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Fortbildungsschulen.
226
anzupassen hat. Besonders in den von Innungen
gestifteten Schulen herrscht gewöhnlich der gewerb-
liche Charakter derartig vor, daß man sie als Hand-
werkerfortbildungsschulen bezeichnet. Auf diese
Weise entstehen fast so zahlreiche Arten von Fort-
bildungsschulen, wie es Berufe gibt. — Als eine
besondere Gruppe erscheinen neben den gewerb-
lichen und den schon erwähnten ländlichen oder
landwirtschaftlichen Fortbildungsschulen die kauf-
männischen, die entweder Lehrlingsschulen sind
oder sich als Vollschulen mit meist einjährigem
Kursus an die Volksschule anschließen und ihre
Schüler in engeren Grenzen als die höheren Han-
delsschulen auf den kaufmännischen Beruf vor-
bereiten. — Streng zu trennen sind von diesen
eigentlichen Fortbildungsschulen alle jene Anstalten
wie Klöppel-, Weber-, Brauer-, Müllerschulen usw.,
die nur eine rein praktische Tüchtigkeit erzielen
wollen und daher in den Bereich der Fachschulen
gehören. Ubrigens scheint das Fachschulwesen
durchaus die Tendenz zu haben, die Fortbildungs-
schulen dauernd zurückzudrängen; in Berlin z. B.
konnte dies 1906 zahlenmäßig nachgewiesen werden.
Hinsichtlich der Lage der Unterrichtsstunden
liegen bis jetzt die Verhältnisse noch vielfach im
argen, da diese meist für die Sonntagvormittage
oder für die späten Abendstunden angesetzt sind.
Am Sonntag sollte, ganz abgesehen von der Ver-
letzung seines Charakters als Tag der Ruhe, schon
wegen der Verhinderung des Kirchenbesuchs kein
Unterricht sein. Die Abendstunden sind aber des-
halb ungeeignet, weil den jungen Menschen (und
vielfach auch den Lehrern!) nach einem arbeits-
reichen Tage die nötige geistige Spannkraft fehlt,
zumal den nur widerwillig diese Schulen besuchen-
den Schülern. Deshalb strebt man immer mehr die
Verlegung des Unterrichts in die Arbeitszeit an,
was in Baden bereits durch das Gesetz gefordert
wird. Auch in Hessen und Weimar darf wenigstens
nach 7 Uhr abends kein Unterricht mehr stattfinden,
und Oldenburg und Preußen gewähren nur den
Fortbildungsschulen eine staatliche Unterstützung,
die den Unterricht spätestens um ½9 Uhr abends
beenden. Auch Bayern wirkt in diesem Sinne,
desgleichen viele Städte, wie z. B. Charlotten-
burg, das 1906 den obligatorischen Besuch ein-
führte mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß
der Unterricht in die Zeit von 7 bis 7 Uhr fallen
müßte. — Da für die Fortbildungsschulen, wie
schon erwähnt, wöchentlich nur einige Stunden
angesetzt werden können, die noch dazu ein großes
Pensum zu bewältigen haben, so käme die so
überaus wichtige erzieherische Einwirkung in diesen
Anstalten zu kurz, wenn neben ihnen nicht noch
andere Veranstaltungen für die freie Zeit der
Schüler geschaffen würden. Als solche sind zu
nennen Lehrlingsheime mit guten Bibliotheken und
Spielplätzen, gemeinsame Spaziergänge oder Ball-
spiele u. dgl. an den Sonntagnachmittagen, gut
geleitete Abendunterhaltungen usw. Derartige
Unternehmungen kommen indirekt auch dem Unter-
8