Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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scheidende Ereignis schon nahen. Es wurde be- 
schleunigt durch die Reise des französischen Staats- 
präsidenten Loubet nach Rom und den Protest des 
Papstes gegen die darin liegende Ignorierung der 
römischen Frage. Der französische Botschafter beim 
Vatikan wurde abberufen und nur noch ein Ge- 
schäftsträger zurückgelassen. Als die Kurie dann 
die Bischöfe von Laval und Dijon absetzte, stellte 
die französische Regierung dies als einen einseitigen 
Vorstoß gegen das Konkordat dar; auch der fran- 
zösische Geschäftsträger verließ Rom, und dem 
päpstlichen Nuntius in Paris wurde mitgeteilt, 
seine Geschäfte seien beendet. Später wurden 
die Papiere der Pariser Nuntiatur unter Bruch 
des Völkerrechts beschlagnahmt, weil die Regie- 
rung sich Kenntnis von gewissen Beziehungen des- 
Nuntius verschaffen wollte. Die ähnlichem Zwecke 
dienende Ausspionierung des Offizierkorps brachte 
Anfang 1905 den Sturz des Kabinetts Combes; 
aber das nun folgende Kabinett Rouvier hielt an 
dem schon in einer neuen Vorlage niedergelegten 
Gedanken der Trennung von Staat und Kirche fest. 
Ende Juli wurde die Trennung nach stürmischen 
Debatten von der Kammer, im Dezember vom Se- 
nat angenommen, dort mit 341 gegen 233, hier 
mit 179 gegen 103 Stimmen. Am 11. Dez. 1906 
trat das Trennungsgesetz in Kraft; es zeigte sich 
bald, daß die von ihm eingeführten Maßnahmen 
praktisch undurchführbar waren. Schienen auch 
Klerus und Laien in Frankreich mehrheitlich der 
Bildung von Kultusgenossenschaften nach dem Ge- 
setz geneigt, so wurden sie doch durch den Papst 
verboten. Es mußten nun neue Bestimmungen ge- 
troffen werden, um den Katholiken wenigstens die 
Nutznießung der Kirchen und die Fortsetzung des 
Gottesdienstes zu ermöglichen. Den Höhepunkt 
erreichte die kulturkämpferische Rücksichtslosigkeit 
in dem Entwurfe des Kultusministers Briand 
über die Einziehung der frommen, für Seelen- 
messen bestimmten Stiftungen. Den Ausweg, durch 
Priestergenossenschaften unter Kontrolle der Regie- 
rung das Stiftungsvermögen verwalten zu lassen, 
untersagte der Papst, der wiederholt gegen die Be- 
handlung der Kirche in Frankreich den schärfsten 
Einspruch erhob. Freie Unterstützungsvereine des 
Klerus billigte der Papst, wie er auch die unab- 
hängigen, lediglich der kirchlichen Aufsicht unter- 
stehenden Organisationen zur Sammlung des 
Kultuspfennigs billigte. Die Lage der beraubten 
und entrechteten Kirche gestaltete sich sehr ernst, da 
die weit überwiegende Mehrheit des katholischen 
Frankreichs kirchlich gleichgültig ist und mit der 
Aufbringung der Mittel für die Aufrechterhaltung 
des Gottesdienstes auch der geistliche Nachwuchs 
mehr und mehr in Frage gestellt wurde. Daneben 
erzielten auch die Organisationsbemühungen auf 
sozialem Gebiete sowie in Verteidigung der Rechte 
der christlichen Eltern gegen die atheistische Ten- 
denz der Staatsschulen und das Staatsschulmono- 
pol nicht den vollen, durch die Lage dringend er- 
forderten Erfolg. 
Frankreich. 
  
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Von den inneren Vorgängen sind aus Anfang 
1902 weiter die Maßnahmen zu erwähnen, welche 
die Kammern trafen, um die Mehrheitsherrschaft 
zu verdrängen, indem sie beschlossen, die Mandats- 
dauer der Deputierten auf sechs Jahre zu erhöhen. 
Bei dem Rücktritt des Kabinetts Waldeck-Rousseau 
blieben Krieg und Außeres (Delcasse) in denselben 
Händen, Combes wurde Ministerpräsident. Zu 
dessen Programm gehörte auch, und zwar mit 
antiklerikalen Absichten, die Wiederaufnahme der 
Sache Dreyfus; die hierfür eingesetzte Revisions- 
kommission sprach sich Ende 1903 für Annahme 
des Revisionsgesuches aus. In das Jahr 1904 
fällt die ebenfalls mit antiklerikaler Absicht ein- 
geleitete Angeberei im Heere (Pichon), wegen 
deren Enthüllung zunächst der Kriegsminister An- 
dré zurücktreten mußte, Anfang 1905 auch das 
Kabinett Combes wegen zu geringer Mehrheiten in 
der Kammer abtrat. Das Kabinett Rouvier folgte; 
darauf bildete 1906 nach der Wahl von Fallières 
als Staatspräsident Sarrien ein Zwischenkabinett, 
dem im Oktober das Kabinett Clémenceau folgte. 
Für dessen Präsidenten bedeutete dies eine volle 
politische Rehabilitierung nach tiefem Sinken in- 
folge der Panamaaffäre. Mit dem Freispruch von 
Dreyfus erfolgte gleichzeitig die Rehabilitierung 
des Obersten Picquart, der befördert und später 
Kriegsminister wurde. Die alte radikale Forde- 
rung einer progressiven Einkommensteuer fand 
durch Einbringung eines entsprechenden Gesetz- 
entwurfs in der Kammer Berücksichtigung; doch 
wurde der Gegenstand von einem Jahr ins andere 
verschleppt. Eine wichtige, viel umstrittene Maß- 
nahme war die Verstaatlichung der Westbahn. 
Die Politik des republikanischen Blocks mit 
ihrer Entrechtung und Enteignung der Kirche, bei 
welcher die Sozialisten zeitweilig die Führung 
hatten, entwickelte auf der äußersten Linken logischer- 
weise Forderungen, die zu einer Entzweiung mit 
der radikalen Bourgeoisie führen mußten. Warum 
den Kampf gegen das Eigentum auf die Kirche 
beschränken, warum sich im Sturm auf ideale Vor- 
stellungen nur an die Religiosität halten? Der 
Kampf gegen die Vaterlandsidee, der Antimili- 
tarismus nahm ernste Formen an, geführt haupt- 
sächlich vom Arbeitsbunde. Die radikale Regie- 
rung suchte sich von der sozialistischen Bundes- 
genossenschaft loszumachen, konnte aber doch auch 
wieder nicht mit voller Energie vorgehen, wollte 
sie nicht die Zukunft ihrer Politik gefährden; ein- 
zelne scharfe Maßnahmen wurden nun getroffen, 
umdiebesorgte Bourgeeisie zubeschwichtigen, durch- 
gegriffen wurde nicht. Der Aufruhr der bedrängten 
Winzer im Süden (1907) war eine Erscheinung 
für sich und verlief schnell, so ernst er sich zeit- 
weilig ansah. An sozialen Maßnahmen war die 
Tätigkeit des fast nur mit Kulturkampf beschäf- 
tigten Kabinetts arm; für die Bergleute wurde 
eine in längeren Fristen abzustufende Verkürzung 
der Arbeitszeit von 9 auf 8 Stunden beschlossen; 
der Allgemeinheit kam die Herabsetzung der mili-
	        
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