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öfter als zweimal während derselben Sitzungs-
periode. Jeder Abgeordnete und jeder Senator
hat das Recht der Initiative; zu einem Gesetz ge-
hört die Zustimmung beider Kammern, indes muß
jedes Finanzgesetz zuerst der Abgeordnetenkammer
vorgelegt und von derselben angenommen werden.
Die Kammemn besitzen ferner das Recht, in ge-
trennten Versammlungen zu erklären, daß sie eine
Revision der Verfassung für statthaft halten. Nach-
dem sie einzeln diesen Beschluß gefaßt haben, treten
sie zu einer Nationalversammlung zusammen, um
die Revision vorzunehmen; die darauf bezüglichen
Beschlüsse müssen von der absoluten Majorität
sämtlicher Mitglieder der Nationalversammlung
gefaßt werden.
Der Präsident der Republik wird von der
Nationalversammlung mit absoluter Stimmen-=
mehrheit auf sieben Jahre ernannt und kann wieder-
gewählt werden. Ihm steht, wie der Kammer, die
Gesetzesinitiative zu, er hat aber weder ein Be-
stätigungsrecht noch ein Veto; er verkündet die
Gesetze, überwacht und sichert ihre Ausführung
und bat das Recht der Begnadigung; doch können
Amnestien nur durch ein Gesetz erlassen werden.
Er präsidiert den feierlichen Staatsakten, beglau-
bigt und empfängt die diplomatischen Vertreter,
verfügt über die bewaffnete Macht, ernennt die
Minister wie alle Zivil- und Militärbeamten,
unterhandelt mit den auswärtigen Mächten, schließt
und ratifiziert die Verträge, kann aber Krieg nur
nach eingeholter Zustimmung beider Kammern er-
klären. Die Friedens= und Handelsverträge, die
Verträge, welche die Staatsfinanzen berühren,
sowie jene, welche sich auf den Stand der Per-
sonen und das Eigentumsrecht der Franzosen im
Auslande beziehen, sind erst dann rechtskräftig,
wenn beide Kammern sie angenommen haben. Für
jede Abtretung, jeden Tausch und jeden Erwerb
von Landesgebiet ist ein Gesetz erforderlich. Jeder
Akt des Präsidenten muß von einem Minister
gegengezeichnet sein. Die Minister sind vor den
Kammern für die allgemeine Politik der Regie-
rung samtverbindlich und für ihre persönlichen
Akte individuell verantwortlich, der Präsident der
Republik dagegen ist für alle in seiner Eigenschaft
als Staatsoberhaupt vollzogenen Akte unverant-
wortlich, mit Ausnahme des Hochverrats, in
welchem Falle der Abgeordnetenkammer das An-
klagerecht und dem Senat die Urteilssprechung
zusteht. Bei einer Vakanz sollen, da kein Vize-
präsident vorgesehen ist, die vereinigten Kammern
sofort zur Erneuerung eines Nachfolgers schreiten;
in der Zwischenzeit ist der Ministerrat mit der
ausübenden Gewalt betraut.
Zur Vertretung und Wahrnehmung der Inter-
essen der Departements und Arrondissements be-
stehen in jenen General-, in diesen Arron-
dissements-Räte, deren Mitglieder auf sechs
Jahre durch allgemeine direkte und geheime Wahl
(ie 1 Mitglied für einen Kanton) gewählt werden
(alle 3 Jahre zur Hälfte erneuert); die Mit-
Frankreich.
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glieder der Präfekturen und andere öffentliche
Beamte, die Militärkommandanten und Geist-
lichen sind nicht wählbar. Beide Körperschaften
halten in jedem Jahre zwei ordentliche öffentliche
Sitzungen unter selbstgewählten Präsidenten; sie
haben sich nur mit den Angelegenheiten ihrer Be-
zirke zu beschäftigen, doch sind in Zeiten politi-
scher Erregung Erörterungen allgemeiner politi-
scher Angelegenheiten recht gewöhnlich. Die Ge-
neralräte (Cconseils généraux) wurden durch das
Gesetz vom 10. Aug. 1871 neu organisiert. Jeder
Kanton des Departements emltsendet ein Mitglied
in den Generalrat; nur im Seine-Departement
gehören demselben auch sämtliche Mitglieder des
Munizipalrats von Paris an. Jeder Generalrat
beruft jährlich aus seiner Mitte eine ständige
Departementalkommission, welche dem Präfekten
an die Seite gesetzt ist. — Die Organisation der
Arrondissementsräte (conseils d’arron--
dissement), deren jährliche Sitzungen die Dauer
von 15 Tagen nicht überschreiten dürfen, beruht
auf den Gesetzen vom 22. Juni 1833 und 10. Mai
1838; die Zahl ihrer Mitglieder ist mindestens
neun, gewöhnlich wählt jeder Kanton ein Mit-
glied. — Die Gemeindeverfassung beruht auf den
Gesetzen vom 18. März 1837, 24. Juli 1867,
4. April 1873. 20. Jan. 1874, 12. Aug. 1876,
28. März 1882, und ist durch Gesetz vom 5. April
1884 neu geordnet. Jede Gemeinde hat einen
Munizipalrat (conseil municipal) und einen
Maire. Ersterer wird, je nach der Größe der
Gemeinde, aus 10—36 (in Paris aus 80) auf
drei Jahre gewählten Mitgliedern gebildet und
auf Grund des allgemeinen Stimmrechts von jenen
Franzosen erwählt, welche mindestens 21 Jahre
alt sind und entweder in der Gemeinde ständig
wohnen oder in derselben direkte Steuer zahlen.
Die 25 Jahre alten Wahlberechtigten sind auch
wählbar. Die Sitzungen des Gemeinderats sind
nicht öffentlich.
Die Verwaltung ist von der Gesetzgebung
und Justiz geschieden und straff zentralisiert. Be-
sorgt wird sie in oberster Instanz von zwölf Mini-
sterien, an deren Spitze Ministerstaatssekretäre
stehen, die vereint unter dem Vorsitz des Staats-
oberhauptes den Ministerrat bilden: 1) Mini-
sterium der Justiz, dessen Chef den Titel Siegel-
bewahrer (garde des sceaux) führt, und der
Kulte; 2) Ministerium des Außern, auch für die
dem französischen Protektorat unterstellten Länder;
3) Ministerium des Innern, dem auch die Armen-
und Gesundheitspflege sowie die Strafanstalten
unterstellt sind; 4) Ministerium der Finanzen;
5) Ministerium des Krieges; 6) Ministerium der
Marine; 7) Ministerium des öffentlichen Unter-
richts und der schönen Künste; 8) Ministerium
für Handel und Industrie, von dem auch das
technische Unterrichtswesen ressortiert; 9) Mini-
sterium der öffentlichen Arbeiten (für Straßen,
Binnenschiffahrt, Wasserbauten, Bergwerke), Po-
sten und Telegraphen, Eisenbahnen; 10) Mini-