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gerechtfertigt, weil Rechte nur in der menschlichen
Gemeinschaft möglich sind, ihre Geltendmachung
daher den Interessen der Gemeinschaft unterzu-
ordnen und zu beschränken ist, wo das Recht des
einzelnen mit den Interessen der Gemeinschaft in
Widerstreit tritt. Die Lösung des Widerstreits
zwischen den Rechten des einzelnen und dem mensch-
lichen Verkehr liegt der staatlichen Gesetzgebung
ob. Das Recht des einzelnen bleibt anerkannt; es
wird nicht aufgehoben, aber ersetzt durch die an
seine Stelle tretende Entschädigung.
2. Geschichte. Schon das römische Recht sah
sich genötigt, die Absolutheit der Rechtsausübung,
insbesondere des Eigentumsrechts, zu öffentlichen
Zwecken zu durchbrechen. Noch größer war die
Zahl der Enteignungsfälle im Mittelalter, da dem
deutschen Recht der absolute Eigentumsbegriff un-
geläufig war. Die Enteignung erfolgte aber nicht
als Staatshoheitsakt, sondern entweder infolge der
Regalität, wie im Bergrecht, oder zufolge gewohn-
heitsrechtlicher Entwicklung durch die Genossen,
wie im Deichrecht. Erst Hugo Grotius führte die-
selbe auf das ius eminens des Staates zurück.
Die Enteignung durch Staatsakt zur Lösung des
Widerstreits des öffentlichen Interesses mit dem
Privatrecht reicht nicht über das 18. Jahrh. zurück
und steht mit der Entwicklung der Landeshoheit
in Verbindung. Im preußischen Landrecht findet
sich zuerst allgemein der Gedanke ausgesprochen,
daß der Staat jemand zum Verkaufen einer Sache
gegen Entschädigung zwingen könne, wenn das
allgemeine Wohl dies notwendig mache. Dann
hat der Code civil in Art. 545 die Zwangsab-
tretung des Eigentums wegen des öffentlichen
Nutzens gegen eine angemessene und vorgängige
Entschädigung zugelassen. Geregelt wurde hierauf
die Enteignung durch die Gesetze vom 16. Sept.
1807 und 8. März 1810, welche für die konti-
nentalen Enteignungsgesetze zum Muster wurden.
Dem französischen Vorgang ist das österreichische
Gesetzbuch in § 365 gefolgt. Im 19. Jahrh. hat
die rasche Entwicklung des Straßen-, Festungs-
und Eisenbahnbaues, der Flußregulierung und
Kanalisierung, des Militärwesens und der Wohl-
fahrtspolizei zu einer häusigen Anwendung der
Enteignung genötigt, wobei von den Verwaltungs-
behörden weitgehende Befugnisse beansprucht wor-
den sind. Der praktischen ÜUbung folgte die theo-
retische Begründung und Rechtfertigung des Ent-
eignungsrechts nach.
Die zahlreichen Enteignungen haben Rechts-
philosophen, wie den jüngeren Fichte, auf den ereits
im römischen Recht ausgesprochenen Gedanken
gebracht, daß der Staat durch Verwaltung und
Gesetzgebung den Eigentümer zu bestmöglicher Be-
nutzung seines Eigentums anzutreiben, und wenn
dies nicht zu erreichen, gegen volle Entschädigung
seines Eigentums zu entsetzen und dieses in die
Hände des rechten Eigentümers zu legen habe.
Die Gegenwirkung gegen diese Verkennung des
Verhältnisses des Staates zum Privateigentum
Enteignung.
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blieb nicht aus. Zum Schutze wohlerworbener
Rechte wurde in den Verfassungsurkunden
das Eigentum für unverletzlich erklärt. Eine Ent-
eignung sollte nach den deutschen Grundrechten
gegen den Willen des Eigentümers nur aus Rück-
sichten des allgemeinen Besten und nur auf Grund
eines Gesetzes gestattet sein (vgl. auch österr. Gesetz
vom 21. Dez. 1867 Art. 5). Die preußische und
die ihr nachfolgenden Verfassungen ließen jedoch im
Anschluß an den Art. 11 der belgischen Verfassung
die Beschränkung fallen, daß die Enteignung nur
auf Grund eines Gesetzes zulässig sei; sie bestimmten
aber, daß das Eigentum nur 1) aus Gründen des
öffentlichen Wohles, 2) gegen vorgängige, in
dringenden Fällen wenigstens vorläufig fest-
zustellende Entschädigung, 3) nach Maßgabe des
Gesetzes entzogen oder beschränkt werden könne.
Der verfassungsmäßigen Garantie der Unverletz-
lichkeit des Eigentums gegenüber ist somit die Ent-
eignung ein ausnahmsweises Rechtsinstitut, welches
nur innerhalb der von den Gesetzen gezogenen
Schranken ausgeübt werden darf.
Eine Eigentumsverletzung seitens der Staats-
gewalt kann nun in zweifacher Weise erfolgen: durch
die Gesetzgebung oder durch die Verwaltung.
Würde die Gesetzgebung Eigentum ohne Gründe
und ohne Entschädigung aufheben, so würde darin
zweifellos eine mißbräuchliche Anwendung des
Gesetzgebungsrechts liegen; ein Mittel der Ab-
wehr oder ein Entschädigungsanspruch wäre aber
dem Enteigneten nicht gegeben, sofern nicht das
Gesetz selbst ihm dazu verholfen hätte. Dieser Fall
der Eigentumsentsetzung scheidet deshalb aus dem
Enteignungsrecht aus. Der verfassungsmäßige
Schutz des Eigentums bezieht sich nur auf die ver-
waltende Tätigkeit des Staates und seiner Organe;
er will den Eigentümer vor willkürlicher Entsetzung
aus seinem Eigentum durch die Regierungsgewalt
schützen. Diese ist dahin beschränkt, daß sie die
Enteignung nur aus Gründen des öffentlichen
Wohles für ein Unternehmen, dessen Ausführung
die Ausübung des Enteignungsrechts erfordert,
gegen vollständige Entschädigung vornehmen oder
gestatten darf. Dieser Schranke ungeachtet, und
obgleich das Enteignungsverfahren sich in gesetz-
lichen Formen bewegt, enthält die Enteignung noch
immer einen einschneidenden Eingriff in das Eigen-
tumsrecht, zumal da dem Enteigneten über die
Frage der Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit der
Verleihung des Enteignungsrechts der Rechtsweg
nicht gegeben ist, er sich vielmehr dem Ausspruch
des Verwaltungsorgans zu fügen hat.
Die in den Verfassungen in Aussicht gestellten
Enteignungsgesetze sind in einer Reihe von
Staaten erfolgt.
In Deutschland erließ zunächst Sachsen am
4. Jan. 1821 ein Mandat über den Chausseebau
und am 3. Juli 1835 ein Gesetz über die Abtre-
tung des Grundeigentums für die Leipzig-Dres-
dener Eisenbahn. Die Abtretung des Grundeigen-
tums zu Waseserleitungen ist dortselbst durch Gesetz