Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

287 
hin scheiden hier die sozialistisch organisierten 
Frauen aus. 
Auch von liberaler und von christlicher Seite ist 
versucht worden, eine Bewegung in die proletarische 
Frauenwelt hineinzutragen; von einer spontanen 
Arbeiterinnenbewegung kann aber auch in dem 
nicht sozialdemokratischen weiblichen Proletariat 
nicht gesprochen werden. Der Erfolg der organisa- 
torischen Arbeit ist noch gering. Den zahlenmäßig 
größten Erfolg hat die katholische Sozialreform 
aufzuweisen, und zwar da, wo der gemeinsame 
Glaube die Arbeiterinnen zu konfessioneller Ver- 
einen (Arbeiterinnenvereinen) verbindet. Weniger 
wirksam erweist sich der Appell an wirtschaftliche 
Interessen, der die Arbeiterinnen den christlichen 
Gewerkschaften zuführen soll; immerhin spricht die 
wachsende Zahl der weiblichen Mitglieder der christ- 
lichen Gewerkschaften für ein Wachstum an Ein- 
sicht unter den christlichen Arbeiterinnen. Unter 
Verzicht auf die Pflege der wirtschaftlichen Inter- 
essen in besonderer Organisation agitiert der „Ver- 
ein katholischer erwerbstätiger Frauen und Mäd- 
chen“. In den Vordergrund stellt die wirtschaft- 
liche Hebung der interkonfessionelle Gewerkverein. 
der Heimarbeiterinnen. 
J) Mit der Gesetzmäßigkeit, die wir auch in der 
geistigen Welt mehr und mehr erkennen, mußte das 
erwachte Selbstbewußtsein der Frauenwelt oben 
Frauenfrage ufw. 
  
wie unten ein erhöhtes Rechtsgefühl wecken 
und bei gegebenem Anlaß zu Worte kommen lassen. 
Ein solcher bot sich ungesucht um die Jahrhundert- 
wende durch die Abfassung des B.G.-B. Die Be- 
288 
nicht. So war es lange gewesen, und so ist es 
noch, aber mit dem Unterschied, daß diese Rechts- 
ungleichheit den Frauen ins Bewußtsein getreten 
ist. Einige krasse Fälle von Mißbrauch des sozialen 
oder wirtschaftlichen Ubergewichts gegenüber ab- 
hängigen Frauen brachten den angehäuften Zünd- 
toff zur Explosion. Ein Entrüstungssturm erhob 
sich in der Frauenwelt, der sich in öffentlichen Ver- 
sammlungen, Schriften und Petitionen an die 
Behörden kräftig Luft machte. Der Kampf ums 
Recht war da und zugleich das Problem, wie die 
neue Zeit mit ihren neuen Lebensforderungen das 
Weib im Recht stellt, d. h. welchen Rechts- 
boden es seinem Dasein gibt im privaten 
und im öffentlichen Leben, in der Familie, in der 
bürgerlichen und (bei den Evangelischen) kirchlichen 
Gemeinde und im Staate. Im Strafrecht waren 
die Geschlechter stets gleichgestellt. 
d) Nachdem einmal die Stellung der Frau 
in der menschlichen Gesellschaft in die kri- 
tische Untersuchung einbezogen worden war, stieß 
man auf das schwierigste Problem. Keine Reform 
im Recht, keine gesetzgeberische Maßnahme kann 
die Naturaufgabe des Weibes ändern und die ge- 
schlechtliche Belastung gleichmäßig verteilen. Mit 
der spezifischen Naturaufgabe des Weibes hängt 
aber das schwierigste Problem für das weibliche 
Geschlecht unlöslich zusammen: die Unsicher- 
heit und Zwiespältigkeit des Frauen- 
  
daseins. Während der Mann seinen Beruf auf 
Lebenszeit wählt, wird das Weib zwischen Er- 
werbsberuf und Eheberuf hin und her geworfen 
schäftigung mit der Stellung des weiblichen Ge= (eine triftige Erklärung für das Zurückstehen des 
schlechts im Recht wurde dadurch zu einer Tages- weiblichen Geschlechts in höchsten künstlerischen 
frage. Weite Frauenschichten hörten zum ersten= oder wissenschaftlichen Leistungen, die nachhaltige 
mal von ihrer Stellung im Recht und empfanden Konzentration verlangen). Wählt es jung einen 
ein ungläubig-schmerzliches Staunen über die Erwerbsberuf, so verläßt es ihn vielleicht bald, um 
Tatsache, daß sie im Familienrecht unter das Mun- zu heiraten; heiratet es jung, so muß es vielleicht 
dium des Gatten, im öffentlichen Recht den Un- bald danach als Mutter oder als Witwe einen 
mündigen, Kindern und Lehrlingen gleichgestellt Erwerbsberuf ergreifen, oder, wenn materiell ver- 
seien. Andere Motive verstärkten diese Stimmung. forg t, nach einem Lebensinhalt suchen. Diese 
Die Sittlichkeitsfrage fing an öffentlich diskutiert Schwierigkeit kann nicht durch den Vorschlag be- 
zu werden. Als eine Schmach empfanden die seitigt werden, nach männlichem Muster einen 
Frauen die in weiten Kreisen herrschende „zweier= Erwerbsberuf zu wählen und die Ehe als Neben- 
lei Moral“, die bei dem weiblichen Geschlechte amt zu betrachten, oder umgekehrt die Ehe als 
straft, was sie dem Manne, dem „führenden“ Ge- Hauptberuf anzusehen und im Nebenberufe einer 
schlechte, nachsieht. Auch die erwerbstätigen Frauen erwerbenden Tätigkeit obzuliegen. Dieser Rat 
machten Erfahrungen und fanden den Mut, davon heißt an der Scylla vorbei in die Charybdis stürzen. 
zu sprechen. Sie hatten in fast allen Berufen Ge- Denn nunstehen wir vor dem Problem der Mutter- 
legenheit zu sehen, daß sie (nicht nur von eigen- schaft und Berufsarbeit, das durchschnittlich (und 
nützigen Arbeitgebern) als Menschen zweiter Klasse nur vom Durchschnitt kann man im allgemeinen 
gewertet und dementsprechend behandelt wurden. sprechen) ebenso unlöslich ist. Die Ehe bringt nun 
Beijeder Gelegenheit, wo das Urteil eines Menschen einmal für das Weib eine andere Belastung als für 
in die Wagschale fällt, standen die Frauen insoweit den Mann. Durchschnittlich wird das Weib die 
als Rechtlose da, als sie keine Stimme hatten; „wer doppelte Belastung der hausmütterlichen und der 
keine Stimme hat, hat kein Recht“ (Bismarck), beruflichen Arbeit nicht durchführen können, ohne 
wenigstens fehltihm daswirksamste Mittel zurselbst- sich körperlich und geistig aufzureiben. Was aber 
tätigen Verteidigung seiner Rechte. Sie hatten die der Familienmutter schadet, beeinträchtigt die 
gleiche Arbeit, die gleiche Vorbildung, gleiche In= Erfüllung der wichtigsten Aufgaben des weib- 
teressen, gleiche Pflichten, aber nicht das gleiche lichen Geschlechts und schadet damit dem Volks- 
Recht, selbst in dem engsten Berufsinteressenkreise ganzen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.