Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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in einer bestimmten Sphäre seiner Betätigung 
nur seiner eigenen Führung folgen, nur Gott und 
seinem Gewissen verantwortlich sein will; hier 
dagegen Beteiligung an denjenigen Maßregeln 
und Einrichtungen, welche innerhalb der bürger- 
lichen Gesellschaft die Tätigkeit der einzelnen ganz 
allgemein einer Regel unterwerfen. Dort will das 
Individuum keine fremde Macht über sich dulden, 
hier will es ein Teil der Macht sein, die über alle 
Individuen herrscht. Darin scheint ein Wider- 
spruch zu liegen, und doch gehen beide Tendenzen 
unzweifelhaft aus der gleichen Wurzel hervor. 
Der Mensch ist frei. Allen Behauptungen zum 
Trotz, welche, aus philosophischer Spekulation 
oder naturwissenschaftlichem Vorurteil entsprungen, 
in den Handlungen der Menschen nur die Auße- 
rungen eines blinden Verhängnisses, nur das un- 
ausweichliche Ergebnis des gesamten hinter ihm 
stehenden Entwicklungsprozesses, seiner physischen 
Konstitution, seiner Erziehung, Umgebung, Lebens- 
weise erblicken wollen, wissen wir uns als die Ur- 
heber unserer Taten. Keine innere Nötigung läßt 
mit der unfehlbaren Sicherheit eines Natur- 
gesetzes die Entscheidung jedesmal in der Rich- 
tung des stärksten Motivs erfolgen, so daß sie in 
dieser Weise ausfallen mußte und nicht anders 
ausfallen konnte; sondern die Entscheidung er- 
folgt, wie sie erfolgt, aus dem innersten Zentrum 
unserer Persönlichkeit heraus, als ein spontaner 
Akt ihrer eigenen Selbsttätigkeit. Die freie Hand- 
lung schließt darum nicht, wie fälschlich oft gesagt 
worden ist, ein Werden ohne Ursache ein, sie ist 
aber auch nicht das bloße Glied einer nach vor- 
wärts und rückwärts ins Unendliche verlaufenden 
Kausalreihe, sie hat ihren zureichenden Grund in 
der spontanen Tat des geistigen Subjekts. 
Die Freiheit ist die Grundlage der sittlichen 
Persönlichkeit des Menschen. Gottes Weltplan 
schließt von Ewigkeit her, wie die Ideen aller 
Wesen, durch deren zeitliche Wirksamkeit er ver- 
wirklicht wird, so auch die Regeln in sich, welche, 
aus jenen Ideen fließend, diese Wirksamkeit be- 
stimmen und ordnen. Der Weltplan ist zugleich 
das Weltgesetz. Im Bereiche der vernunftlosen 
Kreatur erscheint es als Naturgesetz, seine Formel 
besagt, daß bei dem Eintritt bestimmter Bedin- 
gungen stets und unausweichlich bestimmte Folgen 
eintreten. Der seiner Unterlage beraubte Stein 
fällt zu Boden nach Maßgabe des von Galilei 
entdeckten Gesetzes; die chemischen Elemente ver- 
binden sich in den bestimmten quantitativen Ver- 
hältnissen, in den Formen und unter den Er- 
scheinungen, wie es ihre Natur mit sich bringt; 
aber auch die Pflanze entfaltet ihr Wesen so, wie 
es dem Zusammenwirken ihres innern Bildungs- 
gesetzes mit den äußeren Faktoren des Bodens und 
der Luft entspricht. Weit komplizierter noch als 
das der Pflanze ist das Leben der höher ent- 
wickelten Tiere, wo zu den körperlichen Funktionen 
Empfindung und Begierde hinzutritt; aber die 
Formel des Naturgesetzes behauptet auch hier ihre 
  
  
Freiheit. 
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Herrschaft: die durch die Sinnesorgane zugeführ- 
ten Vorstellungen lösen mit oder ohne Vermitt- 
lung von Lust und Unlust und empfundenem 
Streben diejenigen Bewegungen und Bewegungs- 
kombinationen aus, welche in dem unendlich kunst- 
reichen Apparat der tierischen Organisation an- 
gelegt sind. 
Ganz anders der Mensch. Auch für ihn gibt 
es ein Gesetz seiner spezifisch menschlichen Lebens- 
betätigung, entworfen aus der Idee der mensch- 
lichen Natur und Bestimmung. Aber der Mensch 
erkennt es durch seine Vernunft, er erfaßt es nicht 
als die Regel eines unvermeidlichen Seins und 
Geschehens, sondern als die Norm eines Sollens; 
im Gefühle der sittlichen Verpflichtung weiß er 
sich daran gebunden, aber er kann es übertreten; 
wo er es erfüllt, erfüllt er es aus eigener Wahl, 
in ureigener Betätigung seiner Persönlichkeit. Das 
Sittengeset ist das allgemeine Weltgesetz in 
der Gestalt, die es annimmt, wo es die Norm für 
die Handlungen freier und vernünftiger Geschöpfe 
ausspricht. Die Freiheit der vernünftigen Wesen 
aber umschließt das doppelte Moment der Unab- 
hängigkeit der Gesetzeserfüllung von äußerem 
Zwange und innerer Nötigung und der Möglich- 
keit der Gesetzeserfüllung gegenüber anders ge- 
richteten Antrieben und Strebungen. Wir können, 
was wir sollen. 
Darum liegt der Wert der Freiheit nicht in der 
Fähigkeit, das Gesetz zu übertreten, sondern darin, 
daß sie die Erfüllung des Gesetzes zu der eigenen 
Tat des vernünftigen Wesens macht, und eben 
damit begründet sie den überschwenglichen Wert, 
welcher menschliches Handeln vor allem andern 
geschöpflichen Wirken auszeichnet. Gott wollte, 
daß der Mensch selbst an seinem Schicksal baue, 
darum gab er ihm die Freiheit der Wahl, obgleich 
damit die Möglichkeit der Abkehr vom Sittengesetz 
verbunden war. 
In diesem Lichte erscheint die Freiheit vom 
Standpunkte der theistisch-teleologischen Welt- 
ansicht. Von hier aus begreifen wir den unaus- 
löschlichen Zauber, der ihrem Namen innewohnt. 
Er bezeichnet den Vorzug unserer Menschennatur, 
unser eigenstes Besitztum, das uns Gott anver- 
traut hat und das wir wahrhaft nur nützen, wo 
wir es eifersüchtig hüten. Weil wir nach Gottes 
Anordnung selbst die Herren unseres Geschickes 
sein sollen, so wollen wir es auch sein. Der zum 
vollen Gebrauch seiner geistigen Kräfte heran- 
gewachsene Mensch wehrt sich mit Recht gegen 
jeden unbefugten Eingriff in seine Selbstentschei- 
dung. Und der Mensch ist dabei kein bloßes 
Gattungswesen, ein Exemplar des gemeinsamen 
Typus neben unzähligen andern gleichen Exem- 
plaren; ein jeder ist vielmehr eine gesonderte In- 
dividualität, in der die allgemeine Idee in charak- 
teristischer Ausprägung auftritt. Nicht nur das 
Was, sondern auch das Wie unserer Handlungen, 
nicht nur das allgemein Menschliche in unserer 
Betätigung, sondern auch jede individuelle Rich-
	        
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