Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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tung und Färbung derselben ist ein Ausfluß oder 
steht unter der Herrschaft unserer Freiheit. 
Daß Freiheit darum nicht mit schrankenloser 
Willkür zusammenfällt, geht aus dem Früheren 
hervor. Der Mensch kann alles mögliche tun, er 
soll nur das Gute tun. Jeden Mißbrauch der 
Freiheit ahndet das Gewissen durch seine Vor- 
würfe. Im Gewissen tritt die Einschränkung der 
Freiheit durch das Sittengesetz für jeden einzelnen 
deutlich hervor. Aber das Sittengesetz ist nur das 
Gesetz der eigenen Natur des Menschen; indem er 
sich demselben unterwirft, erfüllt er den ihm vor- 
gezeichneten Zweck, verwirklicht er in fortschreiten- 
dem Maße die Idee seines Wesens, nähert er sich 
dem Ziele abschließender Vollkommenheit, welche 
für ihn als bewußtes Wesen zusammenfällt mit 
Glückseligkeit. Darum kann die Vorschrift des 
Sittengesetzes niemals als feindliche Schranke 
empfunden werden. Davon unterschiedene Schran- 
ken aber ergeben sich aus dem gesellschaft- 
lichen Leben der Menschheit. 
Schon das bloße Nebeneinanderbestehen vieler 
bringt es mit sich, daß der an und für sich be- 
rechtigte Freiheitsgebrauch des einen hie und da 
mit dem eines andern feindlich zusammenstößt, 
und wo immer mehrere sich für längere oder kürzere 
Zeit zu gemeinsamen Zielen verbinden, da begeben 
sie sich nach einer bestimmten Richtung hin ihrer 
Freiheit. Wichtiger aber als jene gelegentliche und 
diese freiwillige Beschränkung ist die systematische 
und autoritative, welche mit der Ordnung der 
Lebensverhältnisse im bürgerlichen Gemeinwesen 
untrennbar verbunden ist. Kein Staat, welches 
auch im übrigen seine Verfassung sei, ist möglich 
ohne die Unterscheidung von Befehlenden und 
Gehorchenden, ohne die Unterwerfung der vielen 
Einzelwillen unter das von dem einen oder den 
vielen Herrschenden erlassene Gebot. Hier tritt 
daher von allem Anbeginn dem Prinzip der in- 
dividuellen Freiheit das Prinzip der sozialen Ord- 
nung gegenüber. Wie weit läßt sich das erstere 
behaupten, ohne das andere zu gefährden? Wel- 
ches sind die Mittel, die berechtigte Sphäre der 
Freiheit gegen unbefugte oder doch jedenfalls un- 
erwünschte Eingriffe der sozialen Autorität zu 
schützen? 
Es liegt in der Natur der Sache, daß praktische 
Bemühungen, Mittel dieser Art zu gewinnen, den 
Versuchen einer prinzipiellen Lösung der aufge- 
worfenen Fragen vorausgehen. Welches wirk- 
samere Mittel aber könnte es geben, fremde Ver- 
gewaltigung von sich fernzuhalten oder autoritative 
Leitung weniger fühlbar zu machen, als die Teil- 
nahme an der Staatsgewalt und die Mitwirkung 
bei der Gesetzgebung? Hier ist daher der Punkt, 
wo das Unabhängigkeitsstreben des Individuums 
umschlägt in die Tendenz, selbst ein Bruchteil der 
öffentlichen Gewalt zu sein, von welcher die un- 
vermeidliche Freiheitsbeschränkung aller ausgeht. 
Wo ein jeder seinen Willen in dem Herrscher- 
willen wiederfindet, erscheinen die Außerungen 
Freiheit. 
  
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dieses letzteren nicht mehr als äußere Fesseln, son- 
dern als eigene Selbstbestimmung der Bürger, 
welche der Freiheit keinen Eintrag tut. So dehnt 
sich jetzt der Name der Freiheit von dem Unab- 
hängigkeitsstreben des Individuums her aus auf 
dieses Recht der Mitbestimmung in öffent- 
lichen Angelegenheiten. Geschichtlich ist dabei zu- 
meist noch ein anderer Umstand hinzugekommen, 
welcher eine solche Anwendung des Namens der 
Freiheit begünstigte und rechtfertigte. Jenes Recht 
bürgerlicher Selbstbestimmung mußte erkämpft, 
mußte einer Staatsgewalt abg#ungen werden, die 
mit ihren Interessen sich zu der Menge in einem 
Gegensatze befand oder doch als im Gegensatze 
befindlich angesehen wurde. Versuche, eine solche 
Staatsgewalt zu stürzen und eine Verfassung ein- 
zurichten, welche eine größere oder geringere An- 
zahl von Bürgern zur Teilnahme an Gesetzgebung 
und Staatsverwaltung berief, stellten sich daher 
in dem Glanze befreiender Taten dar; Staaten, 
in denen sie von Erfolg begleitet waren, erschienen 
nunmehr als freie im Gegensatze zu dem bisherigen 
oder anderwärts fortdauernden Zustande der Un- 
freiheit. 
Bei den Griechen tritt der Name der Freiheit 
in diesem doppelten Sinne auf. Der Perikles des 
Thukydides (2, 37, 2) preist an dem athenischen 
Staatswesen, daß seine Angehörigen auf beiderlei 
Weise frei seien. Aber einen tieferen Nachhall im 
nationalen Empfinden hatte doch nur die Freiheit 
in der zuletzt erörterten Bedeutung. Als der Perser 
Hydarnes die spartanischen Gesandten zu über- 
reden suchte, in den Dienst des Großkönigs ein- 
zutreten, erwiderten sie nach Herodot (7, 135), 
dieser Vorschlag bekunde nur, daß jener nicht aus 
Erfahrung wisse, wie süß die Freiheit sei. Und 
doch war in Sparta das Tun und Treiben der 
einzelnen ängstlicher überwacht als irgendwo sonst. 
Wie verhältnismäßig gering die Griechen jene 
Freiheit werteten, welche in möglichster Beseiti- 
gung der die Selbsttätigkeit des einzelnen hem- 
menden Schranken besteht, kann ein von Strabo 
überliefertes derbes Sprichwort bezeugen, welches 
die Freiheit von Kerkyra verspottete (L. Schmidt, 
Ethik der alten Griechen II 223, 233f, 469). 
Ahnlich war es bei den Römern, wenn diese auch 
vielleicht die individuelle Selbstbestimmung mehr 
zu schätzen wußten als die Griechen. — Eine volle 
Würdigung der Freiheit findet sich bei den Völ- 
kern des klassischen Altertums nicht, ebensowenig 
wie die Erkenntnis der allen angeborenen morali- 
schen Würde. Mit dem Bewußtsein derselben 
wäre die Sklaverei unverträglich gewesen, welche 
die Grundlage, freilich auch den Fluch des antiken 
Wirtschaftslebens bildete. Auch die Germanen 
waren noch weit davon entfernt, die Freiheit aus 
der unveräußerlichen Natur des Menschen abzu- 
leiten; sie war ihnen das Erbgut eines bevorrech- 
teten Standes, das den in der Krechtschaft Ge- 
borenen fehlte. Aber während der Gegensatz zwi- 
schen Freien und Unfreien weniger schroff war als 
 
	        
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