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bei den Römern, war ihr Freiheitsgefühl spröder
und trotziger, nicht geneigt, sich dem Staats-
willen ohne weiteres zu fügen, und vor allem be-
strebt, der eigenen Kraft und Sonderart einen
möglichst weiten Kreis zu sichern. Erst das Chri-
stentum, das alle Menschen ohne Unterschied der
Nationalität und Geburt zur Einheit der Kind-
schaft Gottes durch Jesus Christus berief, hat den
Begriff der wahren Freiheit in das allgemeine
Bewußtsein eingeführt. Es hat trotzdem nicht mit
einem Schlage die Sklaverei abschaffen können.
Selbst wenn seine Organe von Anfang an über
eine äußere Machtstellung verfügt hätten, wäre es
dazu nicht imstande gewesen; denn die Sklaverei
war zu tief mit dem gesamten Wirtschaftsleben
und den Besitzverhältnissen verwachsen. Aber die
allmähliche Uberwindung und endliche Beseitigung
derselben ist doch auf das siegreiche Vordringen
der christlichen Ideen zurückzuführen.
In den Ländern, deren Zivilisation auf christ-
licher Grundlage erwuchs, ist die persönliche Frei-
heit im Prinzip überall anerkannt. Alles, was an
frühere Gebundenheit, an Hörigkeit und Knecht-
schaft erinnern könnte, ist verschwunden, das Ar-
beitsverhältnis lediglich durch den freien Arbeits-
vertrag geregelt. Und des weitern hat die Einsicht,
daß der freie Arbeitsvertrag für sich allein nicht
imstande sei, den besitzlosen Lohnarbeiter vor per-
sönlicher Abhängigkeit zu schützen, in den meisten
Staaten gesetzliche Maßregeln zum Schutze und
im Interesse der arbeitenden Bevölkerung zur
Folge gehabt. Die Gesetzgebung der Kulturstaaten
wahrt sodann die persönliche Freiheit des ein-
zelnen, indem sie ihn gegen willkürliche Vergewal-
tigung schützt. Es gibt keine lettres de cachet
mehr, und wenn die Strafrechtspflege die Mittel
der Verhaftung und der Freiheitsstrafen nicht ent-
behren kann, so ist doch genau festgelegt, wann
und unter welchen Kautelen dieselben in Anwen-
dung gebracht werden dürfen. Sie schützt in glei-
cher Weise im Hausrecht den unmittelbaren Schau-
platz individueller Lebensgestaltung gegen jeden
unbefugten Eingriff von außen. Nicht minder
scheint im staatlichen Leben das Prinzip der Frei-
heit fast überall zum Durchbruch gelangt zu sein.
Fürstenherrschaft bedeutet nicht mehr privatrecht-
lichen Besitz von Land und Volk, sondern eine im
Namen und Auftrag des Gemeinwesens aus-
geübte Funktion. Daß der rechtlichen Freiheit des
Individuums keinerlei Gefahr mehr drohe, läßt
sich dennoch nicht behaupten. Im Gegenteil, dem
modernen Staatswesen mit seiner Zentralisation,
seiner Bureaukratie, seinen gegen frühere Zeiten
ins Ungeheuerliche gesteigerten Machtmitteln wohnt
ohne Zweifel eine der Autonomie des Indivi-
duums feindliche Richtung inne.
Man spricht von dem unaufhaltsamen Fort-
schreiten der demokratischen Tendenz und
kann sich mit Recht darauf berufen, daß die nun-
mehr hundertjährige Geschichte von Nordamerika
Freiheit.
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die siegreiche Kraft demokratischer Staatseinrich-
tungen geliefert habe (vgl. indes d. Art. Vereinigte
Staaten). Aber sind demokratische Institutionen
und demokratische Sinnesweise wirklich ausrei-
chende Bürgschaften für die Freiheit des Indi-
viduums? Das Gegenteil ist der Fall. Das
Prinzip der Demokratie ist nicht die Freiheit,
sondern die Gleichheit (s. d. Art.). Wo diese die
Basis des Gemeinwesens bildet, begnügt sich die
öffentliche Meinung nicht damit, daß alle die
gleichen staatsbürgerlichen Rechte besitzen, alle
gleich sind vor dem Gesetz und gleich beteiligt
an der Einflußnahme auf die gemeinsamen An-
gelegenheiten; sie geht bis zur Forderung völliger
Gleichförmigkeit in allen äußern Lebensbetäti-
gungen fort und wendet sich gegen den, der in
irgend einer Beziehung das allgemeine Mittel-
maß überragt. Das Wort, das der alte griechische
Weise in seinem Unmute den Ephesiern in den
Mund legte: „Von uns sei keiner der beste, und
ist ein solcher da, so sei er es anderwärts und mit
andern“, — drückt nur in scharfer Formulierung
jenes Extrem des Gleichheitsstrebens aus. Eine
ausgeprägte Individualität, die ihr Leben nach
eigener Sinnesart und Neigung zu gestalten ver-
sucht, hat möglicherweise in einer absoluten Mon-
archie noch eher Raum als in einer demokrati-
schen Republik. Denn für die erstere gehört es
zu den Mitteln der Erhaltung, die individuelle
Freiheit der Bürger so lange unangetastet zu lassen,
als sie keinen Anspruch erheben, auf die Ordnung
der öffentlichen Verhältnisse Einfluß zu gewinnen.
In einem demokratischen Volksstaate dagegen wen-
det sich die große Zahl der Mittelmäßigen sofort
eifersüchtig und mißtrauisch gegen jeden, der sich
durch irgend einen ungewohnten Zug vor den
übrigen auszeichnet. Der Buchstabe der Ver-
fassung mag der individuellen Betätigung noch so
weite Grenzen ziehen, der Zwang der öffentlichen
Meinung wird sie in Wirklichkeit in die Schranken
dessen einengen, was alle tun. Auf die dereinstige
Ausgestaltung des sozialdemokratischen Zukunfts-
staates wirft die Tyrannei ein bezeichnendes Licht,
welche nicht selten ungelernte und minderwertige Ar-
beiter tüchtigen und geschulten gegenüber ausüben.
Eine prinzipielle Erörterung der Frage, bis
wieweit individuelle Freiheit ihre Grenzen aus-
zudehnen, wo umgekehrt die soziale Ordnung eine
Einschränkung zu fordern befugt sei, ist sonach
durch den Gang der geschichtlichen Entwicklung
und die tatsächliche Lage der Dinge nicht über-
flüssig gemacht. Sie soll im folgenden in der
Weise angestellt werden, daß zuerst das Prinzip
im allgemeinen begründet und dann durch An-
wendung auf ein besonderes Gebiet eine nähere
Präzisierung versucht wird. Uberall handelt es sich
dabei nur um die Frage, wieweit die gesellschaft-
liche Autorität die individuelle Freiheit einschrän-
ken, wieweit umgekehrt das Individuum Aus-
dehnung seiner Selbstbestimmung fordern darf,
den vollgültigen Beleg für die Lebensfähigkeit und nur um das, was rechtlich zulässig, nicht um das,