Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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bei den Römern, war ihr Freiheitsgefühl spröder 
und trotziger, nicht geneigt, sich dem Staats- 
willen ohne weiteres zu fügen, und vor allem be- 
strebt, der eigenen Kraft und Sonderart einen 
möglichst weiten Kreis zu sichern. Erst das Chri- 
stentum, das alle Menschen ohne Unterschied der 
Nationalität und Geburt zur Einheit der Kind- 
schaft Gottes durch Jesus Christus berief, hat den 
Begriff der wahren Freiheit in das allgemeine 
Bewußtsein eingeführt. Es hat trotzdem nicht mit 
einem Schlage die Sklaverei abschaffen können. 
Selbst wenn seine Organe von Anfang an über 
eine äußere Machtstellung verfügt hätten, wäre es 
dazu nicht imstande gewesen; denn die Sklaverei 
war zu tief mit dem gesamten Wirtschaftsleben 
und den Besitzverhältnissen verwachsen. Aber die 
allmähliche Uberwindung und endliche Beseitigung 
derselben ist doch auf das siegreiche Vordringen 
der christlichen Ideen zurückzuführen. 
In den Ländern, deren Zivilisation auf christ- 
licher Grundlage erwuchs, ist die persönliche Frei- 
heit im Prinzip überall anerkannt. Alles, was an 
frühere Gebundenheit, an Hörigkeit und Knecht- 
schaft erinnern könnte, ist verschwunden, das Ar- 
beitsverhältnis lediglich durch den freien Arbeits- 
vertrag geregelt. Und des weitern hat die Einsicht, 
daß der freie Arbeitsvertrag für sich allein nicht 
imstande sei, den besitzlosen Lohnarbeiter vor per- 
sönlicher Abhängigkeit zu schützen, in den meisten 
Staaten gesetzliche Maßregeln zum Schutze und 
im Interesse der arbeitenden Bevölkerung zur 
Folge gehabt. Die Gesetzgebung der Kulturstaaten 
wahrt sodann die persönliche Freiheit des ein- 
zelnen, indem sie ihn gegen willkürliche Vergewal- 
tigung schützt. Es gibt keine lettres de cachet 
mehr, und wenn die Strafrechtspflege die Mittel 
der Verhaftung und der Freiheitsstrafen nicht ent- 
behren kann, so ist doch genau festgelegt, wann 
und unter welchen Kautelen dieselben in Anwen- 
dung gebracht werden dürfen. Sie schützt in glei- 
cher Weise im Hausrecht den unmittelbaren Schau- 
platz individueller Lebensgestaltung gegen jeden 
unbefugten Eingriff von außen. Nicht minder 
scheint im staatlichen Leben das Prinzip der Frei- 
heit fast überall zum Durchbruch gelangt zu sein. 
Fürstenherrschaft bedeutet nicht mehr privatrecht- 
lichen Besitz von Land und Volk, sondern eine im 
Namen und Auftrag des Gemeinwesens aus- 
geübte Funktion. Daß der rechtlichen Freiheit des 
Individuums keinerlei Gefahr mehr drohe, läßt 
sich dennoch nicht behaupten. Im Gegenteil, dem 
modernen Staatswesen mit seiner Zentralisation, 
seiner Bureaukratie, seinen gegen frühere Zeiten 
ins Ungeheuerliche gesteigerten Machtmitteln wohnt 
ohne Zweifel eine der Autonomie des Indivi- 
duums feindliche Richtung inne. 
Man spricht von dem unaufhaltsamen Fort- 
schreiten der demokratischen Tendenz und 
kann sich mit Recht darauf berufen, daß die nun- 
mehr hundertjährige Geschichte von Nordamerika 
Freiheit. 
  
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die siegreiche Kraft demokratischer Staatseinrich- 
tungen geliefert habe (vgl. indes d. Art. Vereinigte 
Staaten). Aber sind demokratische Institutionen 
und demokratische Sinnesweise wirklich ausrei- 
chende Bürgschaften für die Freiheit des Indi- 
viduums? Das Gegenteil ist der Fall. Das 
Prinzip der Demokratie ist nicht die Freiheit, 
sondern die Gleichheit (s. d. Art.). Wo diese die 
Basis des Gemeinwesens bildet, begnügt sich die 
öffentliche Meinung nicht damit, daß alle die 
gleichen staatsbürgerlichen Rechte besitzen, alle 
gleich sind vor dem Gesetz und gleich beteiligt 
an der Einflußnahme auf die gemeinsamen An- 
gelegenheiten; sie geht bis zur Forderung völliger 
Gleichförmigkeit in allen äußern Lebensbetäti- 
gungen fort und wendet sich gegen den, der in 
irgend einer Beziehung das allgemeine Mittel- 
maß überragt. Das Wort, das der alte griechische 
Weise in seinem Unmute den Ephesiern in den 
Mund legte: „Von uns sei keiner der beste, und 
ist ein solcher da, so sei er es anderwärts und mit 
andern“, — drückt nur in scharfer Formulierung 
jenes Extrem des Gleichheitsstrebens aus. Eine 
ausgeprägte Individualität, die ihr Leben nach 
eigener Sinnesart und Neigung zu gestalten ver- 
sucht, hat möglicherweise in einer absoluten Mon- 
archie noch eher Raum als in einer demokrati- 
schen Republik. Denn für die erstere gehört es 
zu den Mitteln der Erhaltung, die individuelle 
Freiheit der Bürger so lange unangetastet zu lassen, 
als sie keinen Anspruch erheben, auf die Ordnung 
der öffentlichen Verhältnisse Einfluß zu gewinnen. 
In einem demokratischen Volksstaate dagegen wen- 
det sich die große Zahl der Mittelmäßigen sofort 
eifersüchtig und mißtrauisch gegen jeden, der sich 
durch irgend einen ungewohnten Zug vor den 
übrigen auszeichnet. Der Buchstabe der Ver- 
fassung mag der individuellen Betätigung noch so 
weite Grenzen ziehen, der Zwang der öffentlichen 
Meinung wird sie in Wirklichkeit in die Schranken 
dessen einengen, was alle tun. Auf die dereinstige 
Ausgestaltung des sozialdemokratischen Zukunfts- 
staates wirft die Tyrannei ein bezeichnendes Licht, 
welche nicht selten ungelernte und minderwertige Ar- 
beiter tüchtigen und geschulten gegenüber ausüben. 
Eine prinzipielle Erörterung der Frage, bis 
wieweit individuelle Freiheit ihre Grenzen aus- 
zudehnen, wo umgekehrt die soziale Ordnung eine 
Einschränkung zu fordern befugt sei, ist sonach 
durch den Gang der geschichtlichen Entwicklung 
und die tatsächliche Lage der Dinge nicht über- 
flüssig gemacht. Sie soll im folgenden in der 
Weise angestellt werden, daß zuerst das Prinzip 
im allgemeinen begründet und dann durch An- 
wendung auf ein besonderes Gebiet eine nähere 
Präzisierung versucht wird. Uberall handelt es sich 
dabei nur um die Frage, wieweit die gesellschaft- 
liche Autorität die individuelle Freiheit einschrän- 
ken, wieweit umgekehrt das Individuum Aus- 
dehnung seiner Selbstbestimmung fordern darf, 
den vollgültigen Beleg für die Lebensfähigkeit und nur um das, was rechtlich zulässig, nicht um das,
	        
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