Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

315 
allgemeine Erörterung festgestellt hat, daß diese 
sittliche Pflicht von seiten einer menschlichen Auto- 
rität mit Zwang durchgesetzt werden dürfe. Wer 
ferner mit dem gläubigen Christen in der auf gött- 
licher Offenbarung beruhenden christlichen Reli- 
gion die eine und ausschließliche Wahrheit erkennt, 
wird in der freiwilligen Abkehr von der geoffen- 
barten Wahrheit eine schwere Verirrung erblicken; 
Zwang aber darf auch er nicht fordern, ja noch 
viel weniger, da es sich hier nicht um eine ver- 
nünftige Erkenntnis, ein Wissen handelt, das sich 
allen in gleicher Weise darstellt, sondern um 
gläubige Annahme, die eine Tat des Willens ist. 
Hierüber also ist kein Zweifel: für religiöses Den- 
ken und Empfinden muß und kann allein völlige 
Freiheit herrschen. Aber die so formulierte Wahr- 
heit entbehrt jeder praktischen Bedeutung. Prak- 
tische Wichtigkeit hat erst die Frage: Wie steht es 
mit der Kundgebung der religiösen Gedanken 
und Empfindungen nach außen, sei es durch die 
denselben entsprechenden Kultushandlungen, sei es 
durch Mitteilung und Verbreitung der eigenen 
religiösen Ansichten in Wort und Schrift? 
Was das erste betrifft, so gilt zunächst, daß nie- 
mand zu einer Kultushandlung, einer religiösen 
Verrichtung gezwungen werden darf. Erzwingen 
läßt sich zudem immer nur die äußere Form der 
Handlung, nicht die innerliche Hinwendung des 
Geschöpfes zum Schöpfer in Verehrung und Liebe. 
Gerade der Gläubige muß einsehen, daß die An- 
wendung des Zwanges in religiösen Dingen ebenso 
unberechtigt ist, wie sie im letzten Grunde unmög- 
lich ist. Nicht so einfach zu beantworten aber ist 
die andere Frage, ob nun auch umgekehrt ein jeder 
die volle Freiheit habe, diejenigen Kultushand- 
lungen zu verrichten, die seinen religiösen Empfin- 
dungen entsprechen oder die ihm durch seine reli- 
giöse Uberzeugung zur Pflicht gemacht werden? 
Wäre freilich das Christentum die einzige und all- 
gemein herrschende Religion, und gäbe es tatsäch- 
lich nur ein christliches Bekenntnis, so würde sie 
einstimmig bejaht oder vielmehr, sie würde gar 
nicht aufgeworfen werden. Nun aber stehen der 
alten Kirche seit dem 16. Jahrh. die verschiedenen 
andern christlichen Religionsgesellschaften gegen- 
über und den Christen überhaupt die Millionen 
Mohammedaner, Buddhisten und Heiden, und 
Freiheit. 
  
dazu hat der wachsende Weltverkehr die einzelnen 
Völker, Religionen und Bekenntnisse längst aus 
ihrer Isoliertheit herausgeführt und miteinander 
in Berührung gebracht. Können diese sämtlich 
ohne Unterschied, kann auch die abschreckendste Form 
heidnischer Vielgötterei Kultusfreiheit für sich be- 
anspruchen? Wenn aber nicht, welches Prinzip 
läßt sich aufstellen, demzufolge sie wohl in dem 
einen, nicht aber in den andern Fällen zuzu- 
erkennen ist? 
Die Antwort scheint nahezuliegen: volle Frei- 
heit eigne selbstverständlich nur der wahren 
Religion, welche der Natur der Sache nach nur 
eine sein könne; ihr gottverliehenes Recht sei es, 
316 
sich in jeder Weise nach außen zu betätigen; für 
Irrtum und Wahn aber könne es ebenso selbst- 
verständlich ein solches Recht nicht geben. Allein 
diese Antwort führt aus mehr als einem Grunde 
nicht zum Ziele. Es gibt kein Recht des Irr- 
tums, d. h. es ist keineswegs sittlich gleichwertig, 
ob ich der Wahrheit oder ihrem Gegenbilde nach- 
strebe und anhänge; es ist unsittlich, sich der er- 
kannten Wahrheit zu verschließen. Aber damit 
ist noch nicht die Befugnis einer menschlichen 
Autorität begründet, jeder nach außen tretenden 
Irrtumsregung mit Zwangsmitteln zu begegnen. 
Die wahre Religion kann nur eine sein, aber 
noch stehen durch Gottes Zulassung Millionen von 
Menschen außerhalb des Christentums, und die 
Christenheit selber ist religiös in sich gespalten. 
Für den Gläubigen besteht kein Zweifel, daß er zu 
den Bekennern der wahren Religion gehört; aber 
diese Gewißheit ist ihm durch den Glauben ver- 
mittelt, den er andern nicht aufzuzwingen vermag; 
jeder Gläubige hält seine Religion für die wahre. 
Damit ist nicht dem Vorrecht der allein wahren 
Religion gegenüber der Indifferentismus ver- 
kündet, sondern lediglich ein faktischer Zustand 
ausgesprochen. 
Das gesuchte Prinzip kann kein anderes sein 
als das zuvor ganz allgemein aufgestellte. Die 
individuelle Freiheit hört auf, eine berechtigte zu 
sein, wo sie eine Verletzung anderer einschließt. 
Dies ist nun keineswegs nur der Fall, wo Leib. 
und Leben, Ehre und Eigentum und die gesamten 
materiellen Interessen Dritter oder der Gesamt- 
heit auf dem Spiele stehen, vielmehr gibt es ohne 
Frage auch eine Verletzung berechtigter Gefühle, 
welche die gesellschaftliche Autorität abzuwehren 
berufen und um derentwillen sie die individuelle 
Freiheit einzuschränken befugt ist. Wird ein- 
gewandt, daß damit ein schwankender und begriff- 
lich schwer zu fassender Faktor in die Erörterung 
eingeführt werde, so ist zu erwidern, daß dieser 
Faktor ein tatsächlich innerhalb gewisser Schranken 
anerkannter und wirksamer ist. Dies beweist der 
in der modernen Gesetzgebung festgehaltene Be- 
griff des Argernisses. Handlungen werden unter 
Strafe gestellt nicht wegen ihrer Natur an sich, 
sondern weil durch dieselben Argernis gegeben, 
d. h. das als berechtigt anerkannte sittliche oder 
religiöse Gefühl anderer verletzt wird. — Welche 
Gefühle aber haben als berechtigte zu gelten? Die 
sittlichen mögen auf sich beruhen, über sie sollte kein 
Streit sein. Die religiösen Gefühle aber schließen 
sich an die besondern Vorstellungen, die bestimmten 
Dogmen, die Einrichtungen und Gewohnheiten 
der einzelnen Religionen an; sie sind deshalb 
ebenso verschieden wie diese letzteren. Jeder Gläu- 
bige wird den Schutz des Rechts für die seinigen 
verlangen und zunächst nur für die seinigen; einem 
Ungläubigen aber erscheint vielleicht jegliches reli- 
giöse Gefühl nur als ein Überrest von Unwissenheit 
und Aberglauben, dem keinerlei Berechtigung zu- 
komme, wenn er nicht gar bis zu der Erklärung
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.