Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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ihr Beispiel kann man sich nicht berufen, um 
Staaten mit überwiegend christlicher Bevölkerung 
einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie eine 
Verletzung der religiösen Gefühle durch öffentliche 
Handlungen unter Strafe stellen. 
Das also ist die Ergänzung, welche die Erör- 
terung der Religionsfreiheit zu dem früher Auf- 
gestellten hinzugebracht hat. Die Schranke der 
individuellen Autonomie liegt nicht nur da, wo 
eine Handlung Dritte an der Erfüllung ihrer in 
der sittlichen Ordnung begründeten Zwecke und 
Aufgaben stören, sie an Leben und Leib, an Besitz 
und persönlicher Ehre schädigen, sondern auch da, 
wo eine Handlung durch Verletzung bestehender 
und als berechtigt anerkannter Gefühle öffentliches 
Argernis geben würde. Die staatliche Autorität 
ist daher zwar weder befähigt noch befugt, das 
religiöse Denken und Empfinden unter Kontrolle 
zu stellen, aber sie kann nicht im Namen der 
rechtlichen Freiheit verpflichtet werden, jedwede 
aus solchem Denken und Empfinden hervor- 
gehende Handlung in der Offentlichkeit zu- 
zulassen. 
Dafß diese Schranke eine veränderliche und ver- 
schiebbare ist, liegt in der Natur der Sache. Die 
Geschichte der modernen Welt zeigt sie in stetigem 
Zurückweichen vor der sich ausbreitenden indivi- 
duellen Freiheit. Solange ein einziges Bekenntnis 
in einem Gemeinwesen herrscht, wird jede Hand- 
lung verletzen, welche sich mit irgend einem Be- 
standteile desselben öffentlich in Widerspruch ver- 
setzt. Hat dagegen der Gang der Ereignisse dahin 
geführt, daß tatsächlich mehrere Bekenntnisse 
nebeneinander bestehen, so wird zwar vielleicht die 
direkte Beschimpfung einer einzelnen Religions- 
gesellschaft auch jetzt noch unter Strase gestellt 
werden, der Schutz des religiösen Gefühls aber, 
welcher allgemein dem Argernis vorbeugt, wird 
sich auf das den verschiedenen Bekenntnissen Ge- 
meinsame beschränken. Umgekehrt, muß sich das 
religiöse Gefühl des Bekenntnisgläubigen einmal 
daran gewöhnen, öffentliche Kulthandlungen an- 
derer Bekenntnisse neben sich zu dulden, erfährt es 
eben dadurch nach Umfang und Intensität un- 
vermeidlich eine Minderung, so wird eben dies 
wiederum dahin wirken, daß das Aufkommen von 
immer neuen Sekten und Kulten ohne Widerspruch 
ertragen wird. Von hier aus begreift sich daher 
vollkommen der Wert, den man stets auf kirch- 
lichem Standpunkte der Glaubenseinheit eines 
Volkes beigemessen hat; mit der Zulassung meh- 
rerer Bekenntnisse ist zugleich dem religiösen In- 
differentismus der Weg geebnet. 
Von den oben aufgeworfenen Fragen bleibt nun- 
mehr noch die zweite zu beantworten. Zu einem 
Teile ist dies allerdings bereits geschehen. Aus 
der vom Recht zu wahrenden individuellen Frei- 
heit kann offenbar nicht die Befugnis abgeleitet 
werden, jedweder Meinung über religiöse Dinge 
durch Wort und Schrift öffentliche Verbreitung 
zu geben. Eine solche besteht, ebenso wie bei den 
Freiheit. 
  
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Handlungen, da nicht, wo durch die Verbreitung 
Argernis gegeben, d. h. das religiöse Gefühl der 
Bevölkerung verletzt wird. Aber es kommt hier 
noch ein weiteres Moment hinzu. Der gesicherte 
Bestand des Gemeinwesens beruht nicht auf der 
physischen Macht der Staatsgewalt und auch nicht 
auf dem egoistischen Interesse der Bürger, sondern 
zuletzt auf der Hochhaltung von Gesetz und Recht, 
auf der Anerkennung der sittlichen Pflicht, sich dem 
Gemeinwesen einzuordnen und dem eigenen Be- 
lieben diejenigen Grenzen zu setzen, welche aus den 
berechtigten Interessen der übrigen und der Ge- 
samtheit stammen. Diese Anerkennung aber schließt 
der Natur der Sache nach notwendig die Annahme 
eines engeren und weiteren Kreises von theoreti- 
schen Wahrheiten ein. Überzeugungen wie die, 
daß es einen Unterschied des Guten und Bösen 
gibt, daß die Menschen für ihre Taten verant- 
wortlich sind, daß die bürgerliche Autorität das 
Recht besitzt, den Verbrecher vor ihr Forum zu 
ziehen und mit Strafe zu belegen usw., bilden 
die unentbehrliche und darum als ganz selbstver- 
ständlich vorausgesetzte Grundlage jeder Rechts- 
pflege. Andere Wahrheiten treten als gleichwertige 
zu ihnen hinzu, oder sie bilden Voraussetzungen 
und logische Konsequenzen der ersteren. Die Ver- 
suche, eine sog. unabhängige, d. h. von dem gött- 
lichen Urheber des Sittengesetzes absehende Moral 
zu begründen, haben zu keinem Ergebnisse führen 
können. Tatsächlich ist die Anerkennung und Heilig- 
haltung des persönlichen Gottes der Grund= und 
Eckstein der theoretischen Moral wie der praktischen 
Sittlichkeit. Das Gemeinwesen hat deshalb ein 
unzweifelhaftes Interesse daran, daß diese Wahr- 
heiten in der Uberzeugung der Bürger unerschüttert 
bleiben. Sie ist eben darum berechtigt, eine öffent- 
liche Bestreitung derselben in Wort und Schrift 
zu verbieten und unter Strafe zu stellen. 
Diese Auffassung tritt in entschiedenen Gegen- 
satz zu der gewöhnlichen Meinung, wenn dieselbe 
auch nicht überall mit solcher Konsequenz durch- 
geführt erscheint, wie bei dem mehrfach genannten 
englischen Philosophen. Stuart Mill verlangt in 
der Tat die unbedingteste Freiheit der Meinungs- 
äußerung, und zwar, wie er meint, im ausdrück- 
lichen Interesse der menschlichen Gesellschaft. Alle 
Fragen ohne Ausnahmen, und die höchsten zuerst, 
müßten der freiesten Diskussion unterstellt werden, 
niemals dürfe die bürgerliche Autorität zugunsten 
einer Meinung dadurch Partei ergreifen, daß sie 
die entgegenstehende mit Gewalt unterdrückt. Denn 
die unterdrückte sei entweder wahr oder falsch. Im 
ersteren Falle sei die Unterdrückung ein Raub an 
der Menschheit, im andern Falle werde übersehen, 
daß nur in stetem Kampfe gegen Anzweiflung die 
Wahrheit sich bewähre und lebendig erhalte. Zu- 
dem aber schließe die Unterdrückung einer Meinung 
als einer unwahren stets die grundlose Voraus- 
setzung eigener Unfehlbarkeit ein. 
Diese Ausführungen, die hier natürlich nicht 
ins einzelne verfolgt werden können, leiden an
	        
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