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die Juden im Lande nicht gehalten werden und
ohne besondere Erlaubnis nicht einmal durch
das Land reisen durften. Am 15. Okt. 1530
mußte dasselbe vom Kaiser bestätigt werden. Ahn-
liche Verhältnisse bestanden in allen andern deut-
schen Territorien. Das System des Polizeistaates
bekämpfte sie nicht, sondern stützte sie.
So war denn die neueste Zeit veranlaßt,
jene Grundrechte des menschlichen Gemeinlebens
wieder zur Anerkennung zu bringen, indem sie den
Gedanken der Freizügigkeit im modernen Sinn
entwickelte und in feste Rechtssätze faßte. Die Ge-
bundenheit an die Scholle wurde aufgehoben, die
Geschlossenheit der Gemeinden gebrochen, der Ge-
werbebetrieb auch für die Landgemeinden frei-
gegeben. Die konfessionellen Beschränkungen der
Freizügigkeit wurden durch die neu aufkommenden
Anschauungen über Toleranz, Religionsfreiheit
und Parität beseitigt. Die Abschließung der ein-
zelnen Nationen wurde gemildert, indem das
Völkerrecht den Grundsatz der internationalen
Freizügigkeit zum Siege führte. Die Auswan-
derungsverbote fielen, und zahlreiche Verträge
sicherten den Aufenthalt in fremden Ländern.
Heute ist die Freizügigkeit innerhalb Deutschlands
ein nirgends mehr bestrittenes Recht, das mit
unserem gesamten staatlichen Leben eng verwachsen
ist. Dagegen ist sie in internationaler Beziehung
zwar tatsächlich durchaus in Ubung, aber noch
keineswegs zu einem festen Rechtsinstitut geworden.
Wie jedoch überhaupt kein Recht ein absolutes
ist, so kann auch die Freizügigkeit nicht als ein
schrankenloses Recht anerkannt werden. Seitdem
die staatliche Gesetzgebung allein an die Tatsache
des Wohnsitzes in einer Gemeinde Pflichten für
diese Gemeinde geknüpft hat in Bezug auf den
Unterhalt vermögens= und unterhaltsloser Ein-
wohner, kann man dem Interesse der Gemeinden,
sich vor der Überflutung mit solchen Einwohnern
zu bewahren, einen rechtlichen Schutz in gewissem
Maße nicht versagen, wenn nicht einzelne Ge-
meinden von der Armenlast erdrückt werden sollen.
Ebenso haben die einzelnen Gemeinden ein Recht
auf Schutz gegen massenhaften Zuzug von mo-
ralisch unzuverlässigen Elementen, namentlich von
bestraften Personen. Endlich darf die Freizügig-
keit nicht mißbraucht werden als Schutzmantel für
Landstreicherei, Bettel, Prostitution und Arbeits-
scheu. Nach allen diesen Richtungen hat die neuere
— Schranken aufzurichten ver-
ucht.
2. Die Freizügigkeit auf dem Gebiete des deut-
schen Staatsrechts. Die Freizügigkeit in ihrem
heute in Deutschland geltenden Sinn ist nichts als
ein Ausdruck des oben entwickelten natürlichen
Rechts eines jeden Menschen, auf der ganzen Erde
umherzuwandern, zu wohnen und seine Nahrung
zu suchen. Sie richtet sich teils gegen die früher
in Deutschland vielfach verbreiteten Rechte der
Gutsherren, nach denen die Angehörigen gewisser
Stände, namentlich die unfreien Bauern, ge-
Freizügigkeit.
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zwungen waren, dauernd auf demjenigen Ritter-
gut zu bleiben, wo sie zufällig geboren waren,
und ohne Erlaubnis des Gutsherrn sich nicht von
demselben entfernen durften. Insofern ist sie
lediglich die Regation der persönlichen Unfreiheit.
Teils richtet sie sich gegen die kommunale Abge-
geschlossenheit der Gemeinden, indem sie jedem
einzelnen das Recht gibt, in jeder Gemeinde sich
aufzuhalten und niederzulassen, wo er ein Unter-
kommen findet, und den Gemeinden verbietet,
dieses Recht mittelbar oder unmittelbar zu ver-
eiteln. Als solche ist sie die Negation des An-
spruchs einer Gemeinde auf ausschließlichen Besitz
eines bestimmten Landesteils. — Diese Freizügig-
keit ist jedoch weder unbeschränkt noch unbedingt.
Sie ist beschränkt aus familienrechtlichen Rück-
sichten für Minderjährige und Ehefrauen, auf dem
Gebiete des Staatsrechts für Beamte und mit
Rücksicht auf die Wehrpflicht, auf dem Gebiete
des kanonischen Rechts für die Inhaber gewisser
kirchlicher Pfründen. Sie ist bedingt durch die
Einzelbestimmungen des Staatsrechts über die
Freizügigkeit.
Die Entwicklung der heutigen Freizügigkeit in
Deutschland geht zurück auf die Einwirkungen der
französischen Revolution, welche rücksichtslos
alle Schranken der Freizügigkeit innerhalb Frank-
reichs, sowohl die gemeinderechtlichen wie die ge-
werblichen, weggeräumt hatte. Preußen, wo#
die Freizügigkeit am meisten beschränkt war, machte
in Deutschland den Anfang mit der Reform. Durch
die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung seit 1807
wurde die Untertänigkeit aufgehoben und damit
dem Bauernstande die wirtschaftliche Freizügigkeit
gewährt. Es folgte die Aufhebung des gesonderten
Inkolats in den verschiedenen Provinzen, indem
an seine Stelle das allgemeine Staatsbürgerrecht
und damit die politische Freizügigkeit innerhalb
Preußens trat. Es folgte endlich die Einführung
des Grundsatzes der Gewerbefreiheit und damit die
gewerbliche Freizügigkeit für alle Preußen. Die
Deutsche Bundesaktevom 10. Juni 1815 führte
sodann eine gewisse Freizügigkeit innerhalb ganz
Deutschlands ein, indem sie in Art. 18 den sämt-
lichen Untertanen der Staaten des Deutschen Bun-
des das Recht gab, aus einem Bundesstaat in
einen andern, der sie aufnehmen wollte, auszu-
wandern und dort in Zivil= oder Militärdienst zu
treten. Seine notwendige Ergänzung mußte dieser
Verfassungssatz, welcher auch die religiösen Be-
schränkungen der Freizügigkeit beseitigte, durch die
Gesetzgebungen der einzelnen Bundesstaaten fin-
den, und in der Tat geschah in der Folgezeit, dem
Vorgange Preußens entsprechend, in sämtlichen
Staaten sehr viel für die allmähliche Durchführung
der Freizügigkeit, trotzdem sich derselben politische
und materielle Interessen entgegenstellten. Als der
Deutsche Bund seinem Ende nahte, stand im großen
Ganzen in ganz Deutschland jedem Angehörigen
eines Bundesstaats das Recht zu. nicht nur in
seinem Heimatsstaat, sondern auch in jedem andern
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