Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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der Verbesserung der Lage der ländlichen Arbeiter, 
der Organisation des Arbeitsnachweises und der 
Erleichterung des Zuzugs fremder Arbeiter erhofft 
werden. 
Über Ausnahmen von der Freizügigkeit, 
welche als große Widersprüche zu bezeichnen sind, 
siehe die Bestimmungen, durch welche aus beson- 
dern, nicht in der Sache liegenden Gründen poli- 
tischer Natur und ebenso kurzsichtigen wie eng- 
herzigen Charakters die Freizügigkeit aufgehoben 
ist, in den Reichsgesetzen betreffend den Orden der 
Gesellschaft Jesu vom 4. Juli 1872 (§ 2 auf- 
gehoben durch Gesetz vom 8. März 1904), be- 
treffend die Verhinderung der unbefugten Aus- 
übung von Kirchenämtern vom 4. Mai 1874 
(aufgehoben durch Gesetz vom 6. Mai 1890) und 
gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der 
Sozialdemokratie vom 21. Okt. 1878 (erloschen 
30. Sept. 1890). Vgl. auch d. Art. Unterstützungs- 
wohnsitz. Sonderbestimmungen über die Frei- 
zügigkeit hat Bayern in seiner Heimatsgesetzgebung 
(s. d. Art. Heimat und Heimatsrecht). 
Einer besondern Erwähnung bedarf noch die 
sog. politische Freizügigkeit innerhalb des 
Deutschen Reiches. Sie besteht darin, daß kein 
Angehöriger eines deutschen Bundesstaates ge- 
hindert ist, sofort und ohne Zustimmung seines 
Heimatsstaates die Staatsangehörigkeit in einem 
andern deutschen Bundesstaate zu erwerben, und 
daß kein Bundesstaat berechtigt ist, den Erwerb 
seiner Staatsangehörigkeit seitens der Angehörigen 
eines andern Bundesstaates zu verhindern, zu er- 
schweren oder an Bedingungen zu knüpfen. Sie 
ist eine vollständige internationale Freizügigkeit 
durch sämtliche Bundesstaaten des Deutschen Rei- 
ches auf Grund des Reichsbürgerrechts. Es be- 
stimmt nämlich § 7 des Bundesgesetzes über den 
Erwerb und den Verlust der Bundes= und Staats- 
angehörigkeit vom 1. Juni 1870: Die Auf- 
nahmeurkunde (durch deren Aushändigung nach 
§ Sbei in einen andern Bundesstaat überwandern- 
den Reichsangehörigen die Staatsangehörigkeit in 
diesem Bundesstaat erworben wird) wird jedem 
Angehörigen eines andern Bundesstaates erteilt, 
welcher um dieselbe nachsucht und nachweist, daß 
er in dem Bundesstaate, in welchem er die Auf- 
nahme nachsucht, sich niedergelassen habe, sofern 
kein Grund vorliegt, welcher nach dem Gesetz über 
die Freizügigkeit vom 1. Nov. 1867 die Abweisung 
eines Neuanziehenden oder die Versagung der Fort- 
setzung des Aufenthalts rechtfertigt. Ebenso wird 
gemäß § 15 die Entlassung (durch welche nach § 13 
die Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaate 
verloren wird) jedem Staatsangehörigen erteilt, 
welcher nachweist, daß er in einem andern Bundes- 
staate die Staatsangehörigkeit erworben hat. Diese 
Sätze sind nicht nur wichtig für die sog. politischen 
Rechte, sondern auch für den Erwerb des Ge- 
meindebürgerrechts, indem die sämtlichen Ge- 
meindeordnungen dieses Recht nur an Inländer 
(im engeren Sinne) verleihen oder doch (wie in 
  
Freizügigkeit. 
  
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Bayern rechtsrheinisch) den Erwerb suspendieren, 
bis der Bewerber die inländische Staatsangehörig- 
keit erworben hat. 
Eine Art politischer Freizügigkeit ist auch die 
sog. militärische Freizügigkeit. Obschon wir 
in Deutschland innerhalb des einheitlichen Reichs- 
heeres Kontingente der Einzelstaaten mit bestimm- 
ten Rechten der Kontingentsherren haben, und 
obschon die Wehrpflicht zunächst eine Pflicht gegen 
den heimatlichen Bundesstaat ist, so darf doch jeder 
Deutsche seiner Wehrpflicht nicht nur in dem- 
jenigen Bundesstaat bzw. in demjenigen Kontin- 
gent genügen, dem er durch seine Staatsangehörig- 
keit untersteht, sondern auch in jedem andern Kon- 
tingent, in dem er angenommen wird. Das gilt 
sowohl für die Mehrjährig-Freiwilligen wie für 
die Einjährig-Freiwilligen (ogl. Deutsche Wehr- 
ordnung vom 22. Nov. 1888 88 24, 84, 85, 93). 
Daraus folgt ferner, daß kein Kontingent die Zu- 
lassung der in dem Bereiche anderer Kontingente 
Wohnhaften zur Ableistung der Militärpflicht 
grundsätzlich ausschließen oder an sachwidrige Be- 
dingungen knüpfen kann. 
Endlich ist in diesem Zusammenhang zu er- 
wähnen die juristische Freizügigkeit. Seit 
der für das gesamte Deutsche Reich gemeinschaft- 
lichen Ordnung des Justizwesens, welche das Ge- 
richtsverfassungsgesetz von 1877 (neueste Fas- 
sung vom 17. Mai 1898) brachte, besteht der 
Wunsch, daß, wer in einem Bundesstaate die 
erste juristische Prüsung abgelegt hat, in jedem 
andern Bundesstaate zum juristischen Vorberei- 
tungsdienst und zur zweiten juristischen Prüfung, 
und daß, wer in einem Bundesstaat die zweite 
juristische Prüfung abgelegt hat, in jedem andern 
Bundesstaate zum Richteramt, zur Staatsanwalt- 
schaft und zur Rechtsanwaltschaft zugelassen wer- 
den müsse. Das Gerichtsverfassungsgesetz bestimmt 
in § 3 nur, daß, wer in einem Bundesstaate die 
erste Prüfung bestanden hat, in jedem andern 
Bundesstaate zur Vorbereitung auf den Justiz- 
dienst und zur zweiten Prüfung zugelassen werden 
könne. Von dieser Befugnis machen die Justiz- 
verwaltungen der einzelnen Bundesstaaten einen 
verschiedenen Gebrauch, überwiegend jedoch in dem 
Sinne, daß sie die Üübernahme eines Referendars, 
der in einem andern Bundesstaate die Prüfung 
bestanden hat, möglichst erschweren. Als Vor- 
bedingung für die gewünschte Reglung wird die 
Vereinbarung übereinstimmender Prüfungsord- 
nungen in allen Bundesstaaten bezeichnet. Doch 
dürfte eine solche nicht sobald zu erreichen sein. 
Sie kann aber auch nicht als eine notwendige 
Voraussetzung anerkannt werden. Denn auch ab- 
gesehen von den Mindesterfordernissen für die Be- 
fähigung zum Richteramte, welche § 2 des Ge- 
richtsverfassungsgesetzes aufstellt, weichen die Prü- 
fungsanforderungen in den verschiedenen Bundes- 
staaten keineswegs in durchschlagender Weise von- 
einander ab, wenn auch die Prüfungsformen 
größere Abweichungen zeigen.
	        
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