Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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3. Die internationale Freizügigkeit be- 
steht einerseits in dem Rechte der Auswande- 
rung, anderseits in der Zulassung fremder 
Staatsangehöriger im Inland zum Aufenthalt, 
Wohnsitz und Erwerb. Die Auswanderungsfreiheit 
in Deutschland (s. d. Art. Auswanderung) ist nur 
beschränkt mit Rücksicht auf die Wehrpflicht und 
insofern gewährleistet durch § 17 des Bundes- 
gesetzes, betreffend die Erwerbung und den Verlust 
der Bundes= und Staatsangehörigkeit vom 1. Juni 
1870: „Aus andern als den in § 15 bezeichneten 
Gründen (betreffend die Wehrpflicht) darf in 
Friedenszeiten die Entlassung (aus dem Staats- 
verband) nicht verzögert werden. Für die Zeit 
eines Krieges oder einer Kriegsgefahr bleibt dem 
Bundespräsidium der Erlaß besonderer Anordnung 
vorbehalten.“ Auch die Auswanderung ohne Ver- 
lust der Staatsangehörigkeit ist in ganz Deutsch- 
land freigegeben. Die Bestimmungen über die- 
selbe gehören nach Art. 4, Ziff. 1 der Reichsver- 
fassung zur Zuständigkeit des Reiches. Doch ist 
ein Reichsgesetz zur Reglung dieser Sache noch nicht 
ergangen. Die Freiheit der Auswanderung ohne 
Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit beruht 
daher einstweilen noch auf den Gesetzgebungen der 
Einzelstaaten. Für Preußen siehe z. B. Art. 11 
der Verfassung vom 31. Jan. 1850: „Die Frei- 
heit der Auswanderung kann von Staats wegen 
nur in Bezug auf die Wehrpflicht beschränkt wer- 
den. Abzugsgelder dürfen nicht erhoben werden.“ 
Über die Zulassung fremder Staats- 
angehöriger im Deutschen Reich bestehen keiner- 
lei gesetzliche Bestimmungen. 8 8 des oben erwähn- 
ten Staatsangehörigkeitsgesetzes bestimmt: „Die 
Naturalisationsurkunde darf Ausländern nur dann 
erteilt werden, wenn sie 1) dispositionsfähig sind, 
2) einen unbescholtenen Lebenswandel geführt 
haben, 3) eine eigene Wohnung oder ein Unter- 
kommen finden, 4) sich und ihre Angehörigen zu 
ernähren imstande sind.“ Er enthält aber keinerlei 
Verpflichtung zur Erteilung der Naturalisation, 
wenn diese Bedingungen zutreffen. Was den Auf- 
enthalt und den Wohnsitz von Fremden (s. d. Art. 
Fremdenrecht) angeht, so hat das Völkerrecht aller- 
dings den Grundsatz ausgebildet, daß kein Staat 
in Friedenszeiten die Angehörigen eines andern 
Staates, welche sich friedlich und gesetzmäßig ver- 
halten und an die öffentliche Armenpflege keine 
Anforderungen stellen, zurückweisen oder wieder 
ausweisen darf ohne bestimmte, der Regierung der 
Ab= oder Ausgewiesenen mitzuteilende Ursachen. 
Auch ist dieser Satz gewiß mehr als eine Pflicht 
der internationalen Höflichkeit. Da jedoch die in- 
ländische Regierung allein darüber zu entscheiden 
hat, ob solche Gründe vorliegen, und da dieselbe 
in der Art dieser Gründe nicht beschränkt ist, so 
sind die Fremden im Inlande immer noch ohne 
festen Rechtsboden. Man vergleiche hiermit die 
Massenausweisung der Polen aus den östlichen 
Provinzen Preußens im Jahre 1885 aus kon- 
fessionellen und nationalen Rücksichten, die Aus- 
  
Freizügigkeit. 
  
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weisung fremder Zeitungsmitarbeiter aus Berlin, 
Paris, Wien, Rom, Sofia, weil sie sich „lästig 
gemacht“ haben, die Ausweisung ausländischer 
Jesuiten aus Deutschland usw. Wenn das Reichs- 
Jesuitengesetz vom 4. Juli 1872 in dem jetzt auf- 
gehobenen § 2 bestimmte: „Die Angehörigen des 
Ordens der Gesellschaft Jesu oder der ihm ver- 
wandten Orden oder ordensähnlichen Kongrega- 
tionen können, wenn sie Ausländer sind, aus dem 
Bundesgebiet ausgewiesen werden", so war das 
vom Standpunkte des Fremdenrechts nur insoweit 
eine Neuerung, als die Ausweisung Fremder, wie 
von der preußischen Regierung aus Anlaß der 
Polenausweisungen (s. o. durchgesetzt wurde, trotz 
Art. 4, Ziff. 1 der Reichsverfassung, welcher die 
gesetzgeberische Zuständigkeit in Sachen der „Frem- 
denpolizei“ dem Reiche zuweist, nach wie vor Lan- 
dessache ist, so daß Fremde im allgemeinen nur aus 
dem Einzelstaat ausgewiesen werden können. In 
Kriegszeiten wird ein allgemeines Ausweisungs- 
recht gegen die Angehörigen der feindlichen Macht 
geübt (z. B. Ausweisung der Deutschen aus Paris 
im Jahre 1870). BVgl. d. Art. Aufenthaltsrecht 
und Fremdenrecht, auch im Art. Agsylrecht. 
Die internationale Freizügigkeit ist in neuerer 
Zeit vielfach durch völkerrechtliche Ver- 
träge gewährleistet worden, sei es durch beson- 
dere Niederlassungsverträge sei es im Anschluß an 
Handelsverträge (ogl. d. Art. Niederlassung). Prak- 
tische Schwierigkeiten ergeben sich, wenn auf diese 
Weise kulturell und sittlich tieferstehenden Aus- 
ländern die freie Einwanderung verbürgt ist oder 
sonst sich massenhaft entwickelt. So die Schwierig- 
keiten in den Weststaaten der nordamerikanischen 
Union und in Kanada gegenüber der Einwande- 
rung der Chinesen und Japaner. Solche Schwie- 
rigkeiten sind nur von Fall zu Fall zu lösen; eine 
Berücksichtigung der Rückwirkung der freien Ein- 
wanderung von minderwertigen Elementen auf die 
einheimische Bevölkerung läßt sich nicht ganz von 
der Hand weisen; doch sollte nationaler Chauvi- 
nismus dabei ferngehalten werden. Die nord- 
amerikanische Union hat neuerdings auch begon- 
nen, die Einwanderung „unerwünschter“ Elemente 
aus Europa zu beschränken, namentlich gegenüber 
slawischen Einwanderern. Vgl. d. Art. Auswan- 
derung (Bd I, Sp. 491 ff). 
4. Dem geltenden deutschen Reichsrecht ent- 
spricht im wesentlichen das österreichische 
Recht der Freizügigkeit. Ebenso ist eine Beschrän- 
kung in gewissen Fällen durch Ortsstatut zulässig. 
Das heutige Recht der Freizügigkeit beruht auf 
dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dez. 1867. 
Literatur. Arnold, F. u. Unterstützungs- 
wohnsitz (1872); Berthold, Armenlast u. F. (1881); 
ders., Vermehrt die F. die Armenlast? (1884); 
Wielandt, Reichsgesetzgebung über F. usw. im Zu- 
sammenhang mit der bad. Landesgesetzgeb. (1889); 
Gneist, Art. „F.“ in Stengels Wörterbuch des deut- 
schen Verwaltungsrechts 1 (1890); Dames, F. u. 
Aufenthalt, nach Reichsrecht mit spezieller Berück- 
sichtigung des bayr. Landesrechts (1893); Wein-
	        
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