Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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In wie weite Ferne auch diese dem Menschen- 
wohl und Völkerglück geltenden Ideen schweifen, 
so läßt sich doch ein anderes irdisches Ziel als das 
von Fichte aufgezeigte nicht denken, wenn das 
menschliche Geschlecht überhaupt eine solche Be- 
stimmung haben soll und die Befähigung besitzt, 
jenes höhere Maß politischer Einsicht zu erlangen, 
welche nur die gründliche Kenntnis der Völker- 
und Staatengeschichte zu vermitteln vermag. Die 
Menschheit muß und kann denn doch dazu ge- 
langen, wenigstens über ärgste Ursachen beständiger 
Irrungen und Vorurteile ins klare zu kommen. 
Man wird in Zukunft gewisse Fehler des Denkens 
und der Willensrichtung vermeiden und mit 
Lächeln in ihrem Entstehen berichtigen, wie man 
heutzutage bei einer handgreiflichen optischen Täu- 
schung verfährt, mit deren Wesen jedermann ver- 
traut ist. Damit können die tief in der mensch- 
lichen Natur liegenden Gegensätze wesentlich ge- 
mildert und gewissermaßen auf einen erträglichen 
Antagonismus zurückgeführt werden. Die großen 
Dinge macht der Mensch freilich nicht durch sein 
beschränktes Willens= und Kraftvermögen; was er 
aber tun kann, ist, den natürlichen Lauf der Dinge 
beobachten, und was dieser zur Reife gebracht hat, 
in friedliche Bahnen lenken. Bringen dennoch ver- 
derbliche Mächte Unheil und Leiden über die 
Menschheit, wie es die Kriegsleiden sind, so mögen 
wir dieses, bis wir eine bessere Erklärung haben, 
als die vergeltende Nemesis für Torheit, Eigen- 
nutz und Übermut betrachten, eine Nemesis, die 
nach den der Geschichte eingeprägten Spuren aller- 
dings durch die Völker zu wandeln scheint, wie 
schon Tacitus sie an Rom erkannte. Der Glaube 
an die Friedfertigung der Völker ist, wenn auch 
zeitweilig abgeschwächt, der Menschheit niemals 
verloren gegangen. Es sei in Kürze erinnert an 
des Abbé de St-Pierre Projekt der Begründung 
eines ewigen Friedens, dem Leibniz in einem 
Dankschreiben Beifall zollte, obwohl er gleichzeitig 
an einen hohen Militär schrieb, ihm komme dabei 
die Aufschrift einer Begräbnisstätte: Pax per- 
pe#tua, in den Sinn — an die eifervolle Tätig- 
keit, welche der Amerikaner Elihu Burritt im 
Dienste der Friedensidee entwickelte (seine dies- 
bezüglichen Abhandlungen erschienen 1853 unter 
dem Titel „Olblätter“), an die Flugschriften von 
Dr Adolf Fischhof und Arthur de Marcoartu, 
welche hauptsächlich dem Rüstungsstillstande gal- 
ten, u. a. Daß Napoleon I. auf St Helena die 
Außerung getan haben soll, er habe 1802 nach 
dem Frieden von Amiens nur noch an den ewigen 
allgemeinen Frieden und die Beglückung Frank- 
reichs durch eine gute Verwaltung gedacht, daß 
die Abhandlung: La paix universelle (1864) 
auf eine Inspiration Napoleons III. zurückzu- 
führen ist, soll nicht unerwähnt bleiben. 
2. Tritt man aus dem Bereiche philosophischer 
Betrachtung auf den Boden der praktischen Ver- 
suche, den Frieden dauernd zu begründen, so ist 
die Frage nicht zu umgehen, weshalb die Staaten 
Friede, ewiger usw. 
  
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bei aller friedfertigen Gesinnung dennoch den Krieg 
für unvermeidlich halten. Weil es an einem Rich- 
ter fehlt, der ihre Streitfälle entscheidet und das 
Recht weist, lautet die Antwort. In dem einzelnen 
Staate verhüte die Autorität des Gesetzes Ge- 
waltübung und Eigenmacht, in den Beziehungen 
der Staaten zueinander gebe es kein Gesetz, wel- 
ches von einer zu diesem Zwecke hinreichenden 
Autorität gestützt würde, und es müsse deshalb 
zum offenen Kampfe kommen, wenn eine der 
Streitparteien die friedliche Verständigung nicht 
will. Es hat denn auch nicht an Versuchen ge- 
fehlt, eine Weltdiktatur zu schaffen, eine Gerichts- 
barkeit über den Staaten zunächst in der Form 
der Universaltheokratie und sodann der Universal- 
monarchie. Das war im Höhepunkt des Mittel- 
alters der Fall, zu einer Zeit, da das lebhafte Be- 
streben nach Vereinigung und Organisation die 
ganzechristliche Welt mit Macht durchdrang. Das 
war auch die Zeit der Theorie von den beiden 
Schwertern, dem geistlichen und weltlichen, auf 
welche in der Bulle Unam sanctam des Papstes 
Bonifaz VIII. (1302) als den Leitstern für die 
Lenkung und Beglückung der Völker verwiesen ist. 
Allein die Hierokratie hatte eine kraftraubende Zer- 
splitterung der kirchlichen Amtsgewalt zur Folge, 
und die übergroßen Monarchien mußten, indem 
sie die heterogensten, einander befehdenden Ele- 
mente in sich schlossen, notwendig an ihrer Größe 
scheitern. Bekannt ist das Heinrich IV. von Frank- 
reich zugeschriebene, von Sully ausgearbeitete Pro- 
jekt eines Friedensbundes der Staaten Europas 
(6 Erbkönigreiche, 5 Wahlreiche, 4 Republiken), 
welche in einem natürlichen Gleichgewicht sein und 
ein universales christliches Gemeinwesen bilden 
sollten unter der Leitung eines obersten Rates, be- 
rufen und ermächtigt, Streitigkeiten beizulegen 
und Ungerechtigkeiten zu ahnden. Um diesen Zu- 
stand herbeizuführen, wollte Heinrich seinen letzten 
Krieg führen. Inmitten der Rüstungen zu dem- 
selben wurde er am 14. Mai 1610 zu Paris auf 
offener Straße ermordet. Es ist nicht unwahr- 
scheinlich, daß auch Gustav Adolf von Schweden 
einen ähnlichen Plan verfolgt und darauf hinge- 
arbeitet hat, deutscher Kaiser zu werden, da es 
nicht möglich war, seinem Königreiche in dem von 
ihm angestrebten Völkervereine eine zentrale Stel- 
lung anzuweisen. — Eine hohe Idee der Friedens- 
sicherung gegen die Anschläge ehrgeiziger, kriegs- 
lustiger, eroberungssüchtiger Machthaber wohnte 
ohne Zweifel der aus der Initiative des Kaisers 
von Rußland hervorgegangenen heiligen Al- 
lianz vom 14./26. Sept. 1815 inne. Die 
Unterzeichner dieses höchst persönlichen Überein- 
kommens haben sehr wohl gefühlt, daß nur Un- 
heil die Folge sein könne, wenn zweierlei Moral 
besteht, wenn Tugenden, die für das Privatleben 
notwendig und unentbehrlich sind, für das öffent- 
liche Leben als überflüssig und nachteilig be- 
trachtet werden, wenn die Geschichte Handlungen, 
die bei dem Individuum Verbrechen sind, bei
	        
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