Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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endigung der Fürsorgeerziehung soll rechtzeitig 
Vorsorge getroffen werden. 
Die Kosten der Überführung des Zöglings, 
der dabei nötigen reglementsmäßigen ersten Aus- 
stattung, der Beerdigung des während der Für- 
sorgeerziehung verstorbenen und der Rückreise des 
entlassenen Zöglings trägt der Ortsarmenverband 
des Unterstützungswohnsitzes, alle andern Kosten 
der Kommunalverband. Dem letzteren werden zwei 
Drittel der erwachsenen Kosten vom Staate ersetzt. 
Die zum Unterhalt Verpflichteten sind bezüglich 
der entstandenen Kosten ersatzpflichtig. Dies bietet 
einenotwendige Handhabe, pflichtvergessenen Eltern 
fortgesetztihre Verantwortlichkeit fühlbar zu machen, 
auch zu verhüten, daß gewissenlose Eltern sich der 
Sorge um ihre Kinder entschlagen. In dem natür- 
lichen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, 
und in der daraus entspringenden Verantwortlich- 
keit ruhen die starken sittlichen Pfeiler, deren Stütze 
eine gute Erziehung der Kinder im allgemeinen 
nicht entbehren kann. Das im Naturrecht wur- 
zelnde elterliche Erziehungsrecht hat das Gesetz 
mit starkem Schutz umgeben. Greift der Staat 
in dieses Recht ein und tritt er aus Rücksicht auf 
den Minderjährigen oder im Interesse der Gesell- 
schaft an der Eltern Stelle, so hat er die selbst- 
verständliche Pflicht, das Erziehungsrecht so aus- 
zuüben, wie gute Eltern es tun. Um das Fest- 
halten sicherer Grundsätze für das spätere Leben 
zu verbürgen, muß die Erziehung auf eine reli- 
giöse Grundlage ausgebaut werden. Die Ver- 
tiefung dieser Grundlage ist nur möglich im Rah- 
men des Bekenntnisses. In Würdigung dessen 
bestimmt das preußische Gesetz: „Im Falle der 
Anstaltserziehung ist der Zögling, soweit möglich, 
in einer Anstalt seines Bekenntnisses unterzu- 
bringen. Im Falle der Familienerziehung muß 
der Zögling mindestens bis zum Aufhören der 
Schulpflicht in einer Familie seines Bekenntnisses 
untergebracht werden."“ 
Die dieser Bestimmung bei den gesetzgeberischen 
Verhandlungen gegebenen Erläuterungen bieten 
für die Wahrung der religiösen Erziehung eine 
für die weitaus meisten Fälle ausreichende Bürg- 
schaft. Wer einen Minderjährigen der angeord- 
neten Fürsorgeerziehung oder auch dem darauf 
gerichteten Verfahren entzieht oder hierbei behilf- 
lich ist, wird nach dem über die berechtigte Grenze 
weit hinausgehenden preußischen Gesetze mit Ge- 
fängnis bis zu zwei Jahren und Geldstrafe bis zu 
1000 M oder mit einer dieser Strafen bedroht. 
Dasbayrische Gesetz betreffend die Zwangs- 
erziehung vom 10. Mai 1902 lehnt sich an das 
preußische Fürsorgeerziehungsgesetz an. Die An- 
ordnung der Zwangserziehung erfolgt durch das 
Vormundschaftsgericht und ist zulässig: 
1) wenn die Voraussetzungen des § 1666 oder 
des § 1838 des B. G.B. vorliegen und die Zwangs- 
erziehung erforderlich ist, um die sittliche oder 
körperliche Verwahrlosung des Minderjährigen zu 
verhüten; 
Staatslexilon. II. 3. Aufl. 
Fürsorgeerziehung. 
  
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2) wenn der Minderjährige eine strafbare Hand- 
lung begangen hat, wegen deren er in Anbetracht 
seines jugendlichen Alters strafrechtlich nicht ver- 
solgt werden kann, und mit Rücksicht auf die Be- 
schaffenheit der Handlung, die Persönlichkeit der 
Eltern oder sonstigen Erzieher und die übrigen 
Lebensverhältnisse des Minderjährigen seiner wei- 
teren sittlichen Verwahrlosung nur durch die 
Zwangserziehung vorgebeugt werden kann; 
3) wenn die Zwangserziehung zur Verhütung 
des völligen sittlichen Verderbens des Minder- 
jährigen notwendig ist. 
Die Zwangserziehung soll nach Vollendung des 
16. Lebensjahres eines Minderjährigen nur in 
besondern Fällen angeordnet werden. 
Das gerichtliche Verfahren erfolgt im Anschluß 
an die Anzeigen, zu denen Staatsanwaltschaft, 
Polizei und Schule verpflichtet sind. Eine An- 
tragsbehörde besteht nicht. 
Der Vollzug der angeordneten Zwangserziehung 
ist der Distriktsverwaltungsbehörde, in München 
der Polizeidirektion übertragen. Die Aufhebung 
erfolgt durch das Vormundschaftsgericht. Vor- 
läufige Entlassung kann auch die Distriktsverwal- 
tungsbehörde verfügen. Über das 18. Lebensjahr 
des Minderjährigen soll die Zwangserziehung nur 
in besondern Fällen hinausgehen. Die Kosten 
werden von der Heimatgemeinde, in Ermanglung 
einer Heimat in Bayern von der Staatskasse be- 
stritten, sind jedoch zu ersetzen von den zum Unter- 
halte Verpflichteten oder aus dem verfügbaren 
oder binnen 10 Jahren nach der Auphebung er- 
worbenen Vermögen des Minderjährigen, falls 
dies ohne Gefährdung des Lebensunterhalts an- 
gängig ist. In Ermanglung zahlungsfähiger Ver- 
pflichteter kann die Heimatbehörde beanspruchen, 
daß ihr die Distriktsbehörde , die Staatskasse / 
der Kosten erstattet. Die Entfernung eines Min- 
derjährigen aus einer Anstalt oder Familie sowie 
die Verleitung zur Entfernung bedroht das Gesetz 
mit Geldstrafe bis zu 150 KM. 
Die Gesetze der andern deutschen Bundesstaaten 
stimmen in den Grundzügen mit denen Preußens 
und Bayerns überein. Im einzelnen ergeben sich 
Abweichungen. Das hessische Gesetz ist in seiner 
Anwendbarkeit eingeschränkt auf Minderjährige, 
welche das 6. Lebensjahr vollendet haben. Die 
im preußischen Gesetze für die Anordnung der 
Fürsorgeerziehung gezogene obere Grenze eines 
Alters von 18 Jahren ist ausgedehnt auf das Alter 
der Minderjährigkeit für Anhalt, Braunschweig, 
Hamburg, Oldenburg, die beiden Reuß, die säch- 
sischen Herzogtümer und Schwarzburg-Sonders- 
hausen. Dagegen darf die Fürsorge-bzw. Zwangs- 
erziehung nur für nicht mehr als 16 Jahre alte 
Minderjährige ausgesprochen werden in Bremen, 
Lippe, Lübeck, in den beiden Mecklenburg, Schaum- 
burg-Lippe, Schwarzburg-Rudolstadt und Würt- 
temberg. Elsaß-Lothringen läßt sie wie auch Bayern 
für das Alter von mehr als 16 Jahren nur in be- 
sondern Fällen zu. 
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