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Die Fürsorge= bzw. Zwangserziehung endigt
in Anhalt, Braunschweig, Elsaß-Lothringen,
Hamburg, Hessen, Oldenburg, in den beiden Reuß,
in den sächsischen Herzogtümern und Waldeck wie
auch in Preußen mit der Volljährigkeit, in Baden
mit dem vollendeten 20. Lebensjahre, sofern sie
nicht wegen Erreichung ihres Zweckes durch Be-
schluß schon vorher aufgehoben wird, in Lübeck
schon mit dem 16., in den andern Bundesstaaten
mit dem vollendeten 18. Lebensjahre. Darüber
hinaus kann in diesen die Entlassung aus beson-
dern Gründen, in Württemberg bis zum vooll-
endeten 20. Lebensjahre, ausgesetzt werden.
Hinsichtlich der religiösen Erziehung bestimmt
das darin dem preußischen Gesetz sich nähernde
bayrische Gesetz, daß auf das Glaubensbekenntnis
des Minderjährigen bei der Auswahl der Familie
oder Anstalt Rücksicht genommen werden müsse.
Die übrigen Bundesstaaten haben es nicht für er-
forderlich gehalten, hierüber eine besondere Be-
stimmung zu erlassen. Maßgebend sind darum
nach Art. 134 des Einf. Ges. zum B.G.B. die
betreffenden Landesgesetze, in Ermanglung solcher
die 8§ 1627, 1631, 1634 des B. G. B.
Die Kosten werden in Baden entsprechend dem
preußischen Gesetze von Staat und Armenverband,
in Württemberg vom Staate und Landarmen-
verband zu ½, vom Ortsarmenverband zu ⅛,
in den kleineren Bundesstaaten ganz vom Staate
getragen. In Braunschweig hat Gemeinde oder
Ortsarmenverband einen periodisch festzusetzenden
Zuschuß zu geben. Das Recht auf Erstattung der
Kosten aus dem Vermögen des Zöglings oder
seitens des zum Unterhalt Verpflichteten wird in
allen Gesetzen vorbehalten.
Die Entfernung eines zur Fürsorgeerziehung
untergebrachten Minderjährigen aus der Anstalt
oder Familie, ebenso die Verleitung zum Ver-
lassen der Familie oder der Anstalt werden von
dem bayrischen und württembergischen Gesetz mit
Geldstrafen bis zu 150 M oder mit Haft bedroht.
Waldeck und mit geringer Abweichung auch Ham-
burg sind der unverhältnismäßig harten Straf-
bestimmung des preußischen Gesetzes gefolgt. Die
andern Bundesstaaten haben von einer Strafan-
drohung abgesehen.
Die Anwendung der Fürsorge= bzw. Zwangser-
ziehungsgesetze ist über die erwarteten Grenzen weit
hinausgegangen. Nach der vom preußischen Mini-
sterium des Innern bearbeiteten Statistik sind in
Preußen bei 37 293 324 Einwohnern in der Zeit
vom 1. April 1901 bis 31. März 1907 40523
Minderjährige der Fürforgeerziehung überwiesen
worden, und zwar im ersten Jahre 7787, in den
fünf folgenden Jahren 6196, 6523, 6458, 6636,
6923. Die Zöglinge waren zu / männlichen, zu
½ weiblichen Geschlechtes. Von den Zöglingen
waren 25 813 evangelischen, 14 514 katholischen,
135 jüdischen, 51 sonstigen Bekenntnisses. Die bei-
den großen christlichen Konfessionen sind im Ver-
hältnis zur Gesamtbevölkerung gleichmäßig betei-
Fürsorgeerziehung.
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waren noch nicht schulpflichtig 739 männliche, 661
weibliche, schulpflichtig 16 524 männliche, 6089
weibliche, schulentlassene 9447 männliche, 7066
weibliche. Die Unehelichen sind daran mit 16,7%
also fast mit dem Doppelten der Verhältniszahl
beteiligt. Es wohnten 13 234 Zöglinge vor ihrer
ÜNberweisung in Städten mit 100 000 und mehr
Einwohnern. Deren Zahl hat ständig zugenommen.
In Berlin ist sie von 537 im ersten auf 801 im
sechsten Jahre gestiegen. Das Land und die kleineren
wie mittelgroßen Städte weisen eine Abnahme auf.
Am Schlusse des Jahres 1901 und der fünf fol-
genden Jahre waren in Anstalten untergebracht
56, 3, 65,7, 67,4, 68,9, 70,6, 70,4% der Zöglinge.
Die Unterbringung in Familien ist besonders im
Osten wachsenden Schwierigkeiten begegnet. Die
Gesamtkosten der Fürsorgeerziehung haben be-
tragen:
-- für die Kommunal-
Jahr fũr den Staat verbände
1901 ] 1330 983,29 47 765 491,69 M.
1902 1 2 61 915,90 „ 1 470 824,62 „
1903 3 180 328.81 „ 1 909 354.49 „
1904 3802 363,96 „ 2 175 657,17 „
1905 4 500 059,44 „ 2270 056,57 „
1906 4987 959,12 „ 2 600 776,24 „
Jeder Zögling hat im Durchschnitt jährlich 180 37
gekostet. Von den mit 21 Jahren Entlassenen haben
sich 4 % gut geführt.
Das bayrische Gesetz vom 10. Mai 1902 ist am
1. Juli desselben Jahres in Kraft getreten. Die
Zwangserziehung, der Regel nach nur bis zum voll-
endeten 16. Lebensjahre anwendbar, ist bei 6 524 372
Einwohnern in der Zeit vom 1. Juli 1902 bis
31. Dez. 1903 angeordnet worden in 442, im Jahre
1904 in 487, 1905 in 451, 1906 in 568, 1907 in
558 Fällen. Der Zwangserziehung waren in den
Jahren 1902/03, 1904/07 unterworfen 469, 1113,
1567, 2074, 2513 Minderjährige, davon an-
nähernd :; männlichen, ½ weiblichen Geschlechts.
Auch in Bayern war die Anstaltserziehung (für
etwa 62 % der Zöglinge) überwiegend. Der ge-
samte Staatsaufwand betrug 1904: 40 848, 1905:
58774, 1906: 85 105, 1907: 110 131,30 M. Da-
zu tritt der Kostenanteil der Heimatgemeinde ⅜,
der Distriktsgemeinde ½, soweit unmittelbare Städte
in Frage stehen, der Heimatgemeinde : der Gesamt-
kosten.
In Baden (nach der letzten Volkszählung
2010 728 Einwohner) standen in den Jahren 1900
bis 1907 in Zwangserziehung 1373, 1457, 1643,
1763, 1887, 1962, 1780, 1816 Minderjährige, dar-
unter stark 156% uneheliche. Die der badischen
Staatskasse dadurch erwachsenen Kosten beliefen sich
abzüglich der ersetzten Beträge in den Jahren 1903
bis 1907 auf 94573, 95 322, 82 721, 126 164,
139 762 M. Nach dem die Jahre 1887/1903 um-
fssenden Berichte war der Erziehungserfolg bei
74,76% befriedigend, bei 11,68 % zweifelhaft, bei
19,83 % nicht befriedigend, bei 2,53 % unbekannt.
In Württemberg (nach der letzten Volkszählung
2302179 Einwohner) betrug die Gesamtzahl der
in Fürsorgeerziehung gestandenen Minderjährigen
in den Jahren 1900/06: 742, 887, 1094, 1292,
1462, 1611, 1785, davon 1075 = 60,2% Knaben
und 710 = 39,8 % Mädchen. Von den Zöglingen
# des Jahres 1906 waren 429 = 24% (im Vorjahre
ligt. Von der Gesamtzahl der überwiesenen Zöglinge 24,3 %) unehelich geboren. Auf 100 Geburten ent-