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fielen in Württemberg 1906: 8,3% uneheliche.
Bei der hohen Sterblichkeit der letzteren im Säug-
lingsalter ist darum der Prozentsatz Unehelicher bei
den Fürsorgezöglingen ein ganz unverhältnismäßig
hoher. 1252 Zöglinge — 70,1% waren evangelisch,
531 — 29,8 % katholisch, 2 = 0,1% andern Be-
kenntnisses. Die Beteiligung der beiden großen christ-
lichen Bekenntnisse entspricht dem Verhältnis der Be-
völkerung (68,7% Evangelische, 30,2% Katholiken).
Von den am 31. März 1907 der Fürforgeerziehung
unterworfenen 1600 Zöglingen waren 947-59,2%
in Anstalten, nur 632 = 39,5% in Familien unter-
gebracht. Der ganze Erziehungsaufwand auf die
Fürsorgezöglinge hat sich von 71 604 M im Jahre
1900 auf 180 556 M im Jahre 1906, d. h. um
152,2%, der des Staates und der Landarmenver-
bände von je 28 553 M auf je 71 313 KM, d. h. um
149,8 %, vermehrt. Aus dem Vermögen der Zög-
linge oder deren unterhaltspflichtigen Verwandten
konnten im Jahre 1906 nur 9444 M oder 5,2%
der Gesamtkosten ersetzt werden. Der durchschnitt-
liche Aufwand für einen Zögling belief sich im
Jahre 1900 auf 96,50 U, 1905 auf 104,62, 1906
auf 10 1,15 M.
Die Wirkung der Fürsorgeerziehungs-
gesetze muß sich, wenn die daran geknüpften Hoff-
nungen zu dem gewünschten Erfolge führen, schließ-
lich in dem Standeder Kriminalität der Jugendlichen
abspiegeln. Die Zahl der verurteilten Jugendlichen
von 12 bis 18 Jahren betrug im Deutschen Reiche
(Statist. Bd 162, 169 und 176) 1900: 48 657,
1901: 49 675, 1902;: 51046, 1903: 50 219, 1904:
50 028, 1905: 51 498. Auf je 100000 Personen der
jugendlichen strafmündigen Zivilbevölkerung ent-
fielen in den Jahren 1900/05: 607,3, 604,0, 616,3,
599,0, 588,8, 594,7. Schon jetzt scheinen diese
Zahlen aufeine Wendung zum Besseren hinzudeuten.
Ein greifbarer Erfolg kann erst nach einer Reihe
weiterer Jahre erwartet werden. Dem großartig
angelegten Versuche, die gefährdete und verwahr-
loste Jugend vor weiterem sittlichen und wirtschaft-
lichen Verfall zu bewahren und den verbrecherischen
unsozialen Elementen, welche den Bestand unseres
Rechts- und Kulturlebens bedrohen, den Zuzug ab-
zuschneiden, kann bei hingebender Arbeit der schließ-
liche Erfolg nicht versagt bleiben.
Die freiwillige Liebestätigkeit, ins-
besondere die kirchliche, findet neben den Fürsorge-
erziehungsgesetzen ein reiches Arbeitsfeld.
England war es, welches unter der Führung
von John Howard den Kampf gegen die Straf-
fälligkeit der Jugend zuerst aufgenommen hat.
Nach englischem Recht beginnt die Strafmündig-
keit schon mit dem vollendeten 7. Lebensjahre. Der
noch nicht 16 Jahre alte Ubeltäter wird jedoch
freigesprochen, wenn ihm die geistige und sittliche
Reife fehlt. Dieser Vorbehalt tat der ÜUberfüllung
der englischen Gefängnisse keinen Einhalt. Howard
suchte darum nach neuen Wegen. 1788 gründete
er Erziehungsanstalten, in denen mittels Ge-
wöhnung an Arbeitsamkeit in Ackerbau und Hand-
werk arme Kinder von Sträflingen geschützt und
verbrecherische Kinder gebessert werden sollten. Aus
diesen Anfängen entstand die vorbildlich gewordene
Erziehungsanstalt zu Radhill. Die Howard-Asso-
Niation suchte Howards Ideen weiter zu befruchten.
Fürsorgeerziehung.
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Miß Mary Carpenter wurde die Schöpferin der
Ragged schools. Ein wiederholt geändertes Ge-
setz von 1854 hat in der Reformatory school
Consolidating and Amending Act von 1866
(29 et 30 vict. ch. 86) eine gesetzliche Grund-
lage geschaffen. Für Jugendliche kann hiernach
bei einer Gefängnisstrafe von mindestens 10 Ta-
gen gleichzeitig auf Unterbringung in eine Zwangs-
anstalt (Keformatory school) auf 2 bis 5 Jahre
erkannt werden. Daneben bestehen Industrial
schools. Laut Act von 1866 (29 et 30 vict.
ch. 118) können diesen überwiesen werden:
1) Kinder unter 14 Jahren, a) die vagabun-
dieren, betteln, in Gesellschaft von Dieben oder
Prostituierten sich aufhalten, b) die elternlos oder
von ihren Eltern verlassen sind oder deren Vater
oder Mutter wegen eines Verbrechens eine Frei-
heitsstrafe verbüßen, c) auf Antrag der Eltern
oder des Vormundes, sofern diese erweislich außer-
stande sind, das Kind zu beaufsichtigen, d) auf
Antrag des Vorstandes einer Armenschule, falls
das Kind widerspenstig ist;
2) Kinder unter 12 Jahren, die eine Straftat
begangen haben, sofern der Richter, statt auf Strafe,
auf Erziehung in einer Industrial school erkennt.
Die Uberweisung erfolgt auf 2 bis 5 Jahre.
Das englische Gesetz von 1893 (56 et 57 vict.
ch. 48) gestattete, noch nicht 12 Jahre alte Übel-
täter und schon einmal zu einer Freiheitsstrafe ver-
urteilte Jugendliche entweder im Anschluß an die
Freiheitsstrafe oder auch sofort für 3 bis 5 Jahre
einer Besserungsanstalt zu überweisen. Laut Ge-
setz von 1899 (62 et 63 vict. ch. 16) soll gegen
Jugendliche, die einer mit Freiheitsstrafe bedrohten
Tat überführt sind, nur Unterbringung in einer
Besserungsanstalt ausgesprochen werden, und zwar
auf 3 bis 5 Jahre, indes nicht über das 19. Le-
bensjahr hinaus. Nur Certified Reformatory)
schools, d. h. staatlich genehmigte und beaufsich-
tigte Anstalten, sind erlaubt. Für Kind und Woche
erhalten sie einen Staatszuschuß, bei den Refor-
matories 4 bis 6 sh, bei den Industrial schools
3 bis 5 sh. Die Eltern sind verpflichtet, zu den
Kosten des Unterhaltes ihres Kindes für die Woche
bis zu 5 sh beizutragen.
Auf Grund dieser Gesetzgebung bestanden im
Jahre 1900 in England und Wales (34547016
Einwohner) Reformatories 39 mit 4847 Zöglingen
(davon 200 auf einem Schurlschiffe), Industrial
schools 119 mit 14707 Zöglingen (davon etwa
1250 auf 4 Schulschiffen); in Schottland (4726070
Einwohner): Reformatories 9 mit 831 Zöglingen,
Industrial schools 35 mit 5027 Zöglingen (davon
800 auf 2 Schulschiffen); in Irland (4386 935
Einwohner): Reformatories 6 mit 603 Zöglingen,
Industrial schools 71 mit 8648 Zöglingen. Die
rechtzeitige Einwirkung auf die Jugendlichen wird
als die Ursache der günstigen Kriminalstatistik
angesehen. In die Gefängnisse von England und
Wales wurden eingeliefert Minderjährige (s. Ta-
belle auf Sp. 359).
Am 31. Dez. 1903 befanden sich in England
und Schottland (39 273 086 Einwohner) unter der
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