Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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zöglinge sollen in zwei Gruppen eingeteilt werden. 
Der einen Gruppe fallen die noch nicht straffällig 
gewordenen Unmündigen und jene Jugendlichen 
zu, die mit dem Strafgesetz noch in keinen Kon- 
flikt geraten sind. Für diese geht die Anordnung 
vom Vormundschaftsgericht aus (§ 1, Ziff. 1—3). 
Die Erziehung erfolgt je nach Person und Eigen- 
schaften in einer Familie, Erziehungs= oder Besse- 
rungsanstalt (§ 4, Abs. 1). Die andere Gruppe 
bilden die dem Alter der Mündigkeit entwachsenen 
Jugendlichen, die eine mit Strafe bedrohte Tat 
begangen haben. Für diese soll die Fürsorge- 
erziehung vom Strafgerichte ausgesprochen wer- 
den, wenn sie wegen mangelnder Zurechnungs- 
fähigkeit aus den Gründen der §§ 4 a und 269 
der neuen Fassung des Strafgesetzes freigesprochen 
oder wenn sie einer strafbaren Handlung schuldig 
erkannt werden (8 2). Solche werden der Regel 
nach einer Besserungsanstalt überwiesen werden. 
Eine andere Erziehungsform ist jedoch nicht aus- 
geschlossen. Dem Vormundschaftsgericht wahrt 
der Entwurf das Recht der Anordnung der Für- 
sorgeerziehung bei Jugendlichen, mit denen sich 
das Strafgericht zu befassen hatte, auch wenn das 
Verfahren eingestellt oder Freispruch erfolgt ist. 
Die Anordnung der Fürsorgeerziehung soll auf 
Jugendliche unter 18 Jahren eingeschränkt werden, 
weil die Nacherziehung, wenn sie Erfolg haben 
soll, längere Zeit dauern muß. Sie soll ausgedehnt 
werden können bis zum vollendeten 21. Lebens- 
jahre. Eine untere Altersgrenze nimmt der Ent- 
wurf nicht in Aussicht. 
Die Schweiz entbehrt bis dahin einer Für- 
sorgeerziehungsgesetzgebung. 
Frankreichs Gesetzgebung bestimmt in Art.66 
des Code pénal von 1810: „Ist der Angeklagte 
noch nicht 16 Jahre alt, so ist er, falls festgestellt 
wird, daß er ohne Unterscheidungsvermögen ge- 
handelt hat (agi sans discernement), freizu- 
sprechen. Indes ist er je nach den Umständen den 
Eltern oder einer Besserungsanstalt zu überweisen, 
um in dieser erzogen und während der im Urteil 
festgesetzten Zeit, welche das vollendete 20. Lebens- 
jahr nicht überschreiten darf, zurückbehalten zu 
werden (étre détenu).“ Die Art. 375 ff des 
Code civil geben dem Vater, mit gewissen Ein- 
schränkungen auch der Mutter, das Recht, die Ein- 
sperrung eines noch nicht 16 Jahre alten Kindes 
auf die Dauer eines Monats, des mehr als 16 Jahre 
alten Minderjährigen bis zu sechs Monaten zu be- 
antragen, s’il „aura des sujets de méconten- 
tement très graves sur la conduite d’un en- 
kant“. Die Entscheidung trifft der Präsident des 
Gerichts erster Instanz. Von Armut abgesehen, hat 
sich der Antragsteller zu den Kosten zu verpflichten. 
Das Gesetz vom 5. Ang. 1850 sur I’éducation et 
le patronage des jeunes détenus schreibt für die 
einem Besserungshaus Uberwiesenen strenge Zucht, 
moralische, religiöse und berufsmäßige Erziehung 
(Education morale, religieuse et profession- 
nelle) in gesonderten Abteilungen (colonies péni- 
Fürsorgeerziehung. 
  
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tentiaires) vor. Neben den an sich bevorzugten 
colonies agricoles ist in den letzten Jahren 
wegen der fur ländliche Arbeiten schwer verwend- 
baren Jugendlichen aus den Großstädten in Belle 
Isle eine colonie maritime und in Aniane 
(Hérault) eine colonie industrielle begründet 
worden. Zu Fleiß und guter Führung spornen 
„gute Punkte“ an, welche mit je 5 Cts gelohnt 
und bis zur Entlassung gutgeschrieben werden. 
Neben zehn staatlichen colonies pénitentiaires 
bestanden Jan. 1903 elf Privatanstalten. Die 
katholisch-kirchlichen Einrichtungen sind seit Jan. 
1904 unterdrückt. Gute Führung gestattet wider- 
rufliche Unterbringung außerhalb der Anstalten 
bei Landwirten. Zu mehr als zwei Jahren Ge- 
fängnis verurteilte Jugendliche und unbotmäßige 
Elemente der colonies pénitentiaires sollen in 
colonies correctionnelles überführt werden. 
Tatsächlich sind sie bis 1903 mangels Ausführung 
jener Vorschrift in den gewöhnlichen Gefängnissen 
untergebracht gewesen. Die Unzulänglichkeit dieser 
Bestimmungen hat nach mehreren vergeblichen 
gesetzgeberischen Anläufen zu dem Gesetz vom 
24. Juli 1889 sur la protection des enfants 
maltraites ou moralement abandonnés ge- 
führt. Es beseitigt die Schwierigkeiten, welche 
sich der Fürsorge für solche Kinder seitens der 
Inhaber der elterlichen Gewalt entgegenstellten. 
Schwere Verbrechen, auch wiederholte Verurteilung 
wegen Verleitung Minderjähriger zur Unsittlichkeit 
hat den Verlust der elterlichen Gewalt von Rechts 
wegen zur Folge. Die Entziehung derselben kann 
auf Betreiben von Verwandten oder der Staats- 
anwaltschaft gerichtlich ausgesprochen werden bei 
andern Straftaten, insbesondere beim Verlassen 
der Kinder, im Fall der Landstreicherei oder ge- 
wohnheitsmäßiger Trunksucht, bei erstmaliger Ver- 
leitung eines Minderjährigen zur Unsittlichkeit, bei 
offenkundig schlechter Führung, gesundheitsschäd- 
licher oder sittengefährdender Behandlung der 
Kinder. Der Verlust der elterlichen Gewalt ist 
im Jahre 1900 eingetreten von Rechts wegen in 45 
(im Vorjahre in 40), durch gerichtliches Urteil 
in 747 (906) Fällen. Die Rechte der elterlichen 
Gewalt können der Armenpflege (assistance 
publique), den an der Fürsorge für die Minder- 
jährigen beteiligten Wohltätigkeitsanstalten oder 
Privaten übertragen werden. Vertreter der assi- 
stance publique sind die für jedes Departement 
ernannten inspecteurs départementaux des 
enfants assistés, in Paris le directeur de 
T’administration générale de ’assistance pu- 
blique. Das Gesetz vom 19. April 1898 sur la 
répression des violences, voies de fait, actes 
de cruautés et attentats commis envers les 
enfants sowie die Gesetze vom 5. Dez. 1901 und 
3. April 1903, welche nur gewisse Strafbestim- 
mungen verschärfen und ergänzen, sind für den 
vorliegenden Stoff von nur mittelbarem Interesse. 
Die kirchliche und Privatwohltätigkeit hat sich in 
Frankreich schon früh der gefährdeten Jugend an-
	        
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