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genommen. Die Société pour le patronage
des jeunes détenus et des jeunes liberés du
département de la Seine ist schon 1833 be-
gründet worden. Die Mehrzahl der 21 Ver-
einigungen besteht in Paris. 1890 ist auf An-
regung des Advokaten Cression, batonnier de
Tordre des avocats, das höchst segensreich wir-
kende Comité de defense des enfants traduits
en justice begründet worden. In weiterem Aus-
bau dieser Bestimmungen hat Frankreich das Ge-
setz vom 18. Juni 1904, loi relative à L’édu-
cation des pupilles de I’assistance publique
difficiles ou vicienx, und das weitere Gesetz
vom 27. Juni 1904, loi sur le service des
enfants assistés, erlassen (beide Gesetze abgedruckt
in Schmitz, Fürsorgeerziehung Minderjähriger).
Hiernach können die der assistance publique
unterstellten Kinder, deren Unterbringung in Fa-
milien wegen ihrer Unbotmäßigkeit oder Charakter=
fehler untunlich ist, auf den Bericht des inspec-
teur départemental durch Entscheid des Prä-
fekten einer Departements= oder Privatackerbau-
oder Industrieschule überwiesen werden. Geben
dieselben durch unsittliches Verhalten (immora-
lité), Ausschreitungen (violence) oder Roheiten
(eruauté) Anlaß zu ernster Unzufriedenheit, so
kann sie das Zivilgericht auf Antrag des Prä-
fekten oder des Direktors der öffentlichen Armen-
pflege (assistance publique) in Paris der Ge-
fängnisverwaltung (administration péniten-
tiaire) überweisen. Nach voraufgegangener Be-
obachtung werden sie dann bis zum Eintritt einer
Besserung entweder in einer Strafkolonie oder
Strafanstalt oder in einer Besserungskolonie (co-
lonie correctionnelle) untergebracht. Die Kosten
des Unterhalts werden von den Departements ge-
tragen. Zu den Baukosten der erforderlichen An-
stalten trägt der Staat die Hälfte. Frankreich ist
hiernach in seinen Maßnahmen über die von der
deutschen Fürsorgeerzieh 9 gezoge-
nen Grenzen weit hinausgegangen.
Belgien hat sich bis dahin zu irgend einem
gesetzgeberischen Vorgehen nicht entschließen können.
Italien hat die Zwangserziehung schon durch
das Gesetz über die öffentliche Sicherheit vom
23. Dez. 1888 eingeführt. Hiernach können noch
nicht 18 Jahre alte Jugendliche, welche verrufen
(diffamati), arbeitsscheu, der Landstreicherei, dem
gewohnheitsmäßigen Bettel oder der Prostitution
ergeben sind, durch den Gerichtspräsidenten der
Zwangserziehung oder der staatlich überwachten
Erziehung überantwortet werden. Bei letzterer
verbleiben die Minderjährigen den Eltern oder
Vormündern. Diesen wird jedoch für den Fall
mangelhafter Erziehung oder ungenügender Uber-
wachung eine Strafe bis zu 1000 Lire angedroht.
Die spätestens mit der Großjährigkeit endigende
Zwangserziehung erfolgt zur Erlernung eines
Handwerks oder zur Ausbildung für einen son-
stigen Beruf entweder in einer geeigneten Familie
oder in einem Besserungshause. Das italienische
Fürsorgeerziehung.
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Strafgesetzbuch vom 30. Juni 1889 Art. 53 er-
klärt Minderjährige bis zum vollendeten 9. Lebens-
jahre für strafunmündig. Jedoch können sie bei Ver-
übung einer mit Zuchthaus oder Gefängnis von
mindestens einem Monat bedrohten Straftat auf
Antrag des Staatsanwalts durch Verfügung des
Präsidenten des Zivilgerichts entweder der auf
das Alter der Minderjährigkeit eingeschränkten
Zwangserziehung in einem Besserungshause oder
aber der elterlichen Zucht mit der Maßgabe über-
wiesen werden, daß die Eltern einer Geldstrafe
bis zu 2000 Lire verfallen, sofern der Minder-
jährige sich unter Verschuldung der Eltern eines
weiteren Vergehens schuldig macht. Feststellung
des Fehlens der zur Erkenntnis der Strafbarkeit
nötigen Einsicht führt zur Freisprechung. Die bei
angenommener Einsicht verhängte Freiheitsstrafe
wird in einem Zwangsarbeitshaus verbüßt, sofern
die Tat im Alter von 14 bis 18 Jahren verübt
ist. Kenner der italienischen Verhältmisse erklären
die dortige Gesetzgebung für ganz unzulänglich.
Baron R. Garofalo weist in seiner Schrift:
'’ Educazione popolare in rapporto alla cri-
minalita auf die geradezu erschreckende Zunahme
der Verbrechen und Vergehen hin. Er beziffert die
Zahl der in den Gefängnissen und Strafanstalten
Jtaliens untergebrachten Verbrecher für das
Jahr 1862 auf 15 037, für 1894 auf 28 336.
Die Jugendlichen machten ein volles Fünftel aus.
8 % der jugendlichen Verbrecher standen im Alter
von weniger als 14 Jahren. Morde und Mord-
versuche sind in den letzten Jahren durchschnittlich
in fast 4000 Fällen zur Anzeige gebracht worden.
Garofalo führt diese trüben Erscheinungen dar-
auf zurück, daß die überwiegende Mehrheit der
Jugend im Gegensatz besonders zu England, wo
der Religionsunterricht zumal in den Anstalten
die erste Stelle einnimmt, religiöser Erziehung
entbehrt.
Literatur. Buthenan, Aus den englischen
Kriminalstatistiken für die Jahre 1899/1901, in
Goldammers Archiv L, 20 31 (1903); v. Stengel,
Wörterbuch des deutschen Verwaltungsrechts II
1003 (1890); Loening, Art. „Zwangserziehung“,
im Handwörterbuch der Staatswissenschaften VII
(/1901); ders., Die Zwangserziehung Minder-
jähriger nach den deutschen Reichs= u. Landes-
gesetzen, in den Jahrbüchern für Nationalökonomie
u. Statistik XXII (dritte Folge) 1—16; Kiene,
Die Zwangserziehung Minderjähriger (1900);
Englert, Das (bayrische) Zwangserziehungsgesetz
(1902); Dorner, Erläuterungen zum bad. Gesetz
betr. die staatl. Fürsorge für die Erziehung ver-
wahrloster jugendl. Personen vom 4. Mai 1886 in
der Fassung des Ges. v. 16. Aug 1900, im Kom-
mentar zur bad Rechtspolizeigesetzgebung (1902)
572 ff; L. Schmitz, Die F. Minderjähriger, preuß.
Gesetz v. 2. Juli 1900, sowie die Fürsforge= bzw.
Zwangserziehungsgesetze der übrigen deutschen Bun-
desstaaten (71908); Noelle, Das Gesetz über die F.
Minderjähriger v. . Juli 1900 02 1901); Aschrott,
Gesetz über die F. Minderjähriger v. 2. Juli 1900
(21907); Gordon, Lehmann u. Niese, Gesetz über