Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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reichen Synoden dieser Jahre wurde mit Energie 
das Programm der gallikanischen Freiheiten haupt- 
sächlich immer wieder von dem Pariser Professor 
des Kirchenrechts, Pierre Leroy, Abt von Mont 
St--Michel in der Normandie, vertreten. 
Aber die gallikanischen Freiheiten sind keine 
Wiederherstellung eines klar erkannten oder dunkel 
geahnten Zustandes aus grauer Vergangenheit, 
noch viel weniger eine Neuschöpfung (Haller 
a. a. O.); sie sind bewußte und getreue Nach- 
ahmung eines englischen Vorbildes. In 
England war von Anfang an die Ausbildung des 
Regierungssystems der avignonesischen Päpste nicht 
geduldet worden; von 1351 datiert das erste Sta- 
tute of Provisors, ein strenges Verbot aller päpst- 
lichen Provisionen. Das Jahr 1390 bringt die 
letzte und schärfste Wiederholung des Statuts: bei 
Strafe der Verbannung, Konfiskation, Gefangen- 
schaft, ja des Todes wird verboten, päpstliche Pro- 
visionen anzunehmen, zu erbitten, ins Land zu 
bringen oder auszuführen. Mit den Provisionen 
fallen von selbst auch die Annaten. Außerlich 
wird die Verbindung der englischen Geistlichkeit 
mit Rom gepflegt, aber in der inneren Verwaltung 
ist sie von demselben unabhängig. 
Dasselbe erstrebten die oben erwähnten franzö- 
sischen Ordonnanzen von 1407/08: Ausschließung 
des Papstes von der Stellenbesetzung und Be- 
steuerung. Diese gallikanischen Freiheiten sind 
nun das Programm geworden, nach dem auf den 
Kirchenversammlungen des 15. Jahrh. die refor- 
matio ecclesiae in capite unternommen werden 
sollte. Die gegen den Papst gerichteten Reform- 
dekrete des Konzils von Basel decken sich in allem 
Wesentlichen mit dem, was in Frankreich im Febr. 
1407 beschlossen und im Mai 1408 verkündigt 
worden war. Zur Überwindung des Schismas 
wurde gleichzeitig auf den Konzilien von Konstanz 
und Basel das bereits Anfang des 14. Jahrh. in 
Frankreich vertretene Episkopalsystem aufgestellt, 
welches die Superiorität des Konzils über den 
Papst aussprach. 
Auf Verlangen des französischen Klerus nun 
ließ König Karl VII. die Ergebnisse des Baseler 
Konzils auf einer Versammlung von Bourges 
am 7. Juli 1438 durch die sog. Pragmatische 
Sanktion mit einigen Abänderungen annehmen 
(ie Bestimmungen bei Münch, Sammlung sämt- 
licher Konkordate 1 207 ff). Damit war die Bil- 
dung einer französischen Landeskirche mit eigen- 
tümlichen Rechten und Freiheiten vollzogen. Die 
Pragmatik wurde von Karl VII. zum Staats- 
gesetz erhoben und ihr Schutz den Parlamenten 
übertragen, welche nun kompetent für ihre Ver- 
letzung waren. Sie erschienen als die berufenen 
Protecteurs des canons und der libertés de 
Téglise gallicane, und damit war ihr Einfluß 
auf rein kirchliche Angelegenheiten gesetzlich an- 
erkannt (Eichmann a. a. O. 51). 
Aus politischen Rücksichten widerrief sie König 
Ludwig XI. am 27. Nov. 1467. Die Parla- 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Gallikanismus. 
  
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mente weigerten sich jedoch, die Abschaffung der- 
selben zu registrieren. Auch dem König war es so 
wenig ernst mit der Abrogation, daß er 1468 den 
Parlamenten den Befehl erteilte, darüber zu wachen, 
daß nicht die Kurie cite, juge, travaille et mo- 
leste les sujets du royaume contre ou au 
pPréjudice des saints décrets et libertés de 
1·Eglise de France, ordonnances royaux et 
pragmatique sanction (Jahan, L'appel comme 
d’abus 153). Schließlich trat doch an Stelle der 
Pragmatischen Sanktion das zwischen Leo X. und 
Franz I. am 18. Aug. 1516 abgeschlossene Kon- 
kordat (Pastor, Gesch. der Päpste IV 1, 12), 
durch welches dem Papst wie dem König weit- 
gehende Rechte über die französische Kirche ein- 
geräumt wurden. Der König namentlich erhielt 
das Recht der Ernennung sämtlicher Bischöfe. 
Parlament, Universität und Klerus erhoben leb- 
haften Protest gegen dasselbe wegen der Ansprüche 
Roms und gegen die Abschaffung der Pragmatik. 
Trotzdem wurde das Konkordat zum Staatsgesetz 
erklärt. Der Schutz desselben wurde wiederum den 
Parlamenten übertragen und damit ihr Einfluß 
auf kirchliche Angelegenheiten abermals gesetzlich 
anerkannt. Sie machten nach wie vor von dem- 
selben weitestgehenden Gebrauch. Die Auffassung 
des Gallikanismus von der Superiorität der all- 
gemeinen Konzilien über den Papst wurde auf 
dem Konzil von Trient durch den Kardinal von 
Lothringen vertreten und die Durchführung der 
Disziplinardekrete genannter Kirchenversammlung 
durch König Heinrich IV. verboten. 
Eine Kodißikation des französischen Staats- 
kirchenrechts erfolgte dann im Jahre 1594 durch 
den Parlamentsadvokaten Pierre Pithou in 
seiner dem König Heinrich IV. gewidmeten Schrift 
Libertés de I’Eglise gallicane, in welcher er 
in 83 Artikeln die gallikanische Doktrin vortrug. 
Diese „Freiheiten“ lassen sich auf die zwei Fun- 
damentalsätze zurückführen: 1) Frankreich ist unab- 
hängig vom Papste in weltlichen Dingen (Art. 4); 
2) die päpstliche Gewalt ist in Frankreich auch bei 
geistlichen Dingen keine absolute, sondern gebun- 
den an die canons et regles des anciens con- 
ciles de lI’Eglise reçeues en France (Art. 5 
u. 6). Die Mittel, durch welche die Freiheiten der 
französischen Kirche garantiert und gegen Ver- 
letzungen gesichert werden könnten, sind in den 
Art. 75/80 festgelegt: Vereinbarungen mit dem 
päpstlichen Stuhl, Ausübung des Placet päpst- 
lichen Erlassen gegenüber, Appellation an ein 
künftiges Konzil, recursus ab abusu. Trotz 
ihres privaten Charakters gewann die Schrift 
Pithous großen Einfluß, besonders auf die Par- 
lamente. Theologen und Juristen, wie Richer 
(11631), Dupuy (7 1651) u. a., ließen sich die 
schriftliche Verteidigung derselben Grundsätze auch 
in der Folgezeit angelegen sein. Trotz der kirch- 
lichen Zensuren, womit alle diese Schriften belegt 
wurden, fanden ihre Grundanschauungen immer 
größeren Anhang, nicht bloß unter den Juristen, 
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