Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

397 
Beschlüsse des Bundesrates; von dem Erfordernis 
der Gegenzeichnung sind alle Akte der Kommando- 
gewalt (die sog. Armeebefehle) ausgenommen. 
Ebenso wie der Minister der Einzelstaaten nicht 
nur für die Verfassungs= und Gesetzmäßigkeit der 
Regierungsakte seines Monarchen, sondern auch 
für deren Zweckmäßigkeit und politische Rätlich- 
keit haftet, so ist auch der Reichskanzler für diese 
kaiserlichen Regierungshandlungen verantwortlich. 
Verantwortlich ist er dem Kaiser, dem Bundesrat 
und dem Reichstag. Der Reichskanzler kann nur 
durch die Ablehnung der Gegenzeichnung und 
Forderung der Entlassung seine Verantwortlich- 
keit gegenüber kaiserlichen Willensäußerungen, mit 
denen er nicht einverstanden ist, geltend machen. 
Und dieses Recht, jederzeit die Entlassung fordern 
zu können, ist im § 35 des Reichsbeamtengesetzes 
normiert. „Dieses Recht bietet denn auch, pflicht- 
gemäß ausgeübt, die stärkste Garantie gegen eine 
unzweckmäßige, rein persönliche kaiserliche Politik. 
Der Kaiser kann ohne Reichskanzler nicht regieren. 
Findet er keinen Kanzler, der die Verantwortlich- 
keit für seine persönliche Politik übernimmt, dann 
muß er sie derart ändern, daß sie sich in konstitu- 
tionellen Formen vollzieht.“ (G. Jellinek, Ein 
Gesetzentwurf betreffend die Verantwortlichkeit 
des Reichskanzlers und seiner Stellvertreter nebst 
Begründung, 1909.) Zwar kennt das Reichs- 
staatsrecht die sog. Ministeranklage nicht; aber 
der Kanzler ist verpflichtet, seine Politik und die 
des Kaisers vor Bundesrat und Reichstag zu ver- 
treten, auf Anfragen der Regierungen im Bun- 
desrat und auf Interpellationen im Reichstag zu 
antworten. Der Reichstag kann dann seine von 
der des Kanzlers etwa abweichende Ansicht in 
Form einer Resolution oder Adresse oder durch 
Verweigerung der „Entlastung“ (Reichsverfassung 
Art. 72) dokumentieren. 
Anläßlich der bekannten Publikation der eng- 
lischen Zeitung Daily Telegraph Ende Okt. 1908 
über ein Interview des Deutschen Kaisers fand am 
10. und 11. Nov. eine ausgiebige Debatte im 
Reichstage statt über „persönliches Regiment“, die 
Reichsverfassung und insbesondere über die Ver- 
antwortlichkeit des Reichskanzlers. Die Vertreter 
aller Parteien betonten mehr oder minder scharf 
die verfassungsmäßige Verantwortlichkeit des Kanz- 
lers. Das Zentrum stellte sich auf den Boden des 
§ 17 der Verfassung und betonte, daß danach aus- 
schließlich der Reichskanzler dem Reichstag für die 
Politik des Kaisers verantwortlich sei. Das deut- 
sche Volk müsse verlangen, daß der Reichskanzler 
den Willen und die Kraft besitze, dem Kaiser gegen- 
über denjenigen Einfluß zur Geltung zu bringen, 
ohne welchen seine staatsrechtliche Verantwortlich- 
keit jede Bedeutung verliere. Aus der Fülle der 
Anträge, die im Reichstag gestellt wurden, seien der 
Antrag des Zentrums und der Antrag Ablaß er- 
wähnt. Die Anträge verlangen zum Teil eine Er- 
weiterung oder Ergänzung der Verfassung, ins- 
besondere den Ausbau des § 17, in der Richtung 
  
Garantien, staatsrechtliche. 
  
398. 
eines besondern Ministerverantwortlichkeitsgesetzes. 
Ergänzend soll hinzutreten eine Reform der Ge- 
schäftsordnung des Reichstages, insbesondere soll 
das Interpellationsrecht des Reichstages dem 
Reichskanzler gegenüber ausgebaut werden. Zu 
diesen Fragen hat der Staatsrechtslehrer G. Jel- 
linek den oben erwähnten „Gesetzentwurf“ ver- 
öffentlicht; er lautet: 
㤠1. Die im Art. 17 der Reichsverfassung grund- 
sätzlich festgestellte Verantwortlichkeit des Reichs- 
kanzlers besteht gegenüber dem Bundesrat und dem 
Reichstage. § 2. Der Reichskanzler ist dafür ver- 
antwortlich, daß er das ihm übertragene Amt der 
Verfassung und den Gesetzen entsprechend gewissen- 
haft wahrnehme und sich des Vertrauens, das sein 
Amt erfordert, würdig zeige. § 3. Der Reichstag 
kann auf Antrag von 100 Mitgliedern mit einer 
Mehrheit von zwei Dritteln seiner gesetzlichen Mit- 
gliederzahl beschließen, daß der Reichskanzler durch 
seine Amtsführung dieses Vertrauen verwirkt hat. 
Dem Beschlusse sind die Tatsachen beizufügen, auf 
die er sich gründet. Solange über einen solchen An- 
trag kein Beschluß gefaßt wurde, bleibt der Reichs- 
tag versammelt. § 4. Der Bundesrat kann binnen 
einer Woche mit Stimmeneinhelligkeit den Beschluß 
des Reichstages aufheben, indem er zugleich den 
Reichstag auflöst. § 5. Der Beschluß des Reichs- 
tages hat das endgültige Ausscheiden des Reichs- 
kanzlers aus dem Reichsdienst zur gesetzlichen Folge. 
86. Vorstehende Bestimmungen gelten auch für die 
Stellvertreter des Reichskanzlers im Bereiche ihrer 
verantwortlichen Stellvertretung. § 7. Wird der im 
§ 3 erwähnte Antrag gestellt, so beschließt der 
Reichstag zunächst binnen drei Tagen, ob in seine 
Beratung einzutreten sei. Im übrigen gelten für 
die weitere Behandlung die Vorschriften der Ge- 
schäftsordnung."“ 
Jellinek vertritt auch die Ansicht des Zentrums, 
daß eine Anderung des Art. 17 der Verfassung 
nicht notwendig sei; „ein einfaches Gesetz, welches 
sich als Ausf.Ges. des Art. 17 ankündigt, würde 
allen verfassungsmäßigen Forderungen Genüge 
tun". Jellinek wendet sich in der Begründung 
seines „Gesetzentwurfes“ gegen den Antrag Ab- 
laß, der zu den 78 Artikeln der Reichsverfassung 
dem Art. 17 noch 16 Zusatzartikel einkleben wolle. 
(Antrag Ablaß und Genossen, Drucksachen des 
Reichstags, 12. Legislaturperiode, I. Session 
1907/09, Nr 1063.) Jellineks Entwurf regelt 
freilich nur die politische Seite der Reichskanzler- 
verantwortlichkeit, die kriminelle und zivilrechtliche 
Seite läßt er außer Betracht und umgeht auch die 
Errichtung des Staatsgerichtshofes, da es „außer- 
ordentlich schwer ist, den Begriffen der Verfas- 
sungs= und Gesetzverletzung oder gar der schweren 
Gefährdung der Sicherheit oder Wohlfahrt des 
Staates, wie in der badischen Verfassung, einen 
juristisch meßbaren Inhalt zu geben“. Er weist 
darauf hin, daß viele Staaten, wie Preußen, 
Portugal, Belgien, Italien, Dänemark, Oster- 
reich-Ungarn, Spanien und Frankreich, bis heute 
noch keine Ausführungsgesetze für die staatsgericht- 
liche Ministerverantwortlichkeit besitzen. In Frank- 
reich liegt die Garantie für diese Verantwortlich-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.