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Pflicht gemacht. Ebensowenig liegt ihr eine Ge-
ringschätzung des staatlichen Gesetzes zugrunde; als
Beispiele reiner Strafgesetze werden regelmäßig
auch kirchliche Bestimmungen, z. B. gewisse Sta-
tuten der religiösen Orden, angeführt. Zudem wird
der Charakter des bloßen Pönalgesetzes stets als
Ausnahme hingestellt und von bestimmten In-
dizien abhängig gemacht, die die Absicht des Ge-
setzgebers, nur äußerlich warnen und abschrecken
oder gewisse Schädigungen des Staates materiell
kompensieren zu wollen, klarstellen. Außer dem
verbreiteten Volksbewußtsein sprechen sich auch
moderne Rechtslehrer für die Möglichkeit und Tat-
sächlichkeit solcher Bestimmungen aus: auf den
Grenzgebieten des Rechts gebe es „untergeord-
nete Auflehnungen“, bei denen „die Anlegung des
sittlichen Maßstabes einen Defekt kaum oder gar
nicht entdecken läßt“, weil „von einer Auflehnung
gegen die Grundsätze der Rechtsordnung selbst
nicht die Rede ist“, oder weil „die betreffende
Handlung nicht an sich rechtsverletzend, sondern
nur wegen ihrer möglichen Schädlichkeit vom
Gesetze verboten ist“; als Beispiele gelten die ein-
fachen Polizeiübertretungen (v. Mayr, Die Pflicht
im Wirtschaftsleben (1900|] 4f; Hälschner, Preuß.
Strafrecht II (1858 2).
3. Umfang. Die Pflicht des Gehorsams er-
wächst nur auf Grund rechtsgültiger Gesetze
und Verordnungen. Erste Bedingung ist daher
die rechtmäßige Gewalt der Obrigkeit, die
die Bestimmungen erläßt. Eine illegitime Macht
verdient keinen Gehorsam; ihre Anordnungen
können jedoch, solange die rechtmäßige Regierung
ausgeschlossen ist, wegen ihrer Notwendigkeit für
das Gemeinwohl verpflichtende Kraft erlangen.
Durch den gleichen obersten Zweck des Staates,
die Existenz und Wohlfahrt des Volksganzen, er-
klärt es sich auch, daß bisweilen eine unrechtmäßige
Gewalt, die längere Zeit bestanden und feste
Wurzeln in der Gesellschaft gefaßt hat, zur legi-
timen wird. Das Recht der entsetzten Dynastie
kann in solchen Fällen dem höheren Rechte des
Staatsganzen weichen. — Die zweite Bedingung
der Rechtsgültigkeit des Gesetzes oder Gebotes ist
die Erlaubtheit und Berechtigung seines In-
haltes. Einer unsittlichen Zumutung gegenüber
ist Verweigerung des Gehorsams Pflicht: „Man
muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
Forderungen, die in unveräußerliche Rechte und
Freiheiten der Untertanen eingreifen, dürfen
abgelehnt werden, solange nicht höhere sittliche
Rücksichten den Verzicht auf das eigene Recht ge-
bieten. Das Recht des „passiven Widerstandes“
gegen unsittliche und ungerechte Gesetze ist nicht
bloß stets von der katholischen Theologie, sondern
auch von vielen heidnischen und modern-prote-
stantischen Rechtsphilosophen anerkannt worden.
Dem heutigen Positivismus allerdings ist ein
„Recht“ des passiven Widerstandes, wenn die po-
sitiven Rechtsmittel versagen, nicht „konstruierbar“;
das materielle Unrecht bleibe formelles Recht, die
Gehorsam, staatsbürgerlicher.
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Rücksicht auf religiöse und sittliche Imperative ge-
höre nur dem Gewissen an. — Was den Gehor-
sam gegen bloße Organe der Staatsgewalt an-
geht, so nimmt schon die Gesetzgebung der Rechts-
staaten die Freiheit der Untertanen gegen Über-
griffe mehr oder weniger in Schutz. Ungesetzlichen
Amtshandlungen staatlicher Beamten darf man in
gewissen Grenzen Widerstand leisten (Deutsches
Strafgesetzbuch §§ 53, 113 ff; Reichsbeamtengesetz
§ 13). Auch der militärische Gehorsam kann kein
absolut unbedingter sein, wenn er nicht in sinn-
und charakterlosen Mechanismus umschlagen soll.
Das deutsche Militärstrafgesetzbuch kennt als Aus-
nahme von der Gehorsamspflicht nur den Fall,
wo „dem Untergebenen bekannt gewesen ist, daß
der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf,
welche ein bürgerliches oder militärisches Vergehen
bezweckie"“ (8 47).
4. Begrenzung durch die Rechte des
Volkes. Durch ungerechte Gesetze und Maß-
nahmen geht die Autorität des Staates selbst
nicht verloren, noch weniger durch persönliche Un-
würdigkeit des Trägers der Gewalt. Gerade das
christliche, auf dem Gottesglauben aufgebaute
Staatsprinzip hält die Weihe der Verpflichtung
auch unsittlichen Herrschern gegenüber aufrecht.
Da das Volk weder der letzte Grund der Staats-
gewalt noch der Träger einer unveräußerlichen
Souveränität ist, besitzt es an sich kein Recht der
Revolution, d. h. des gewaltsamen Widerstandes
gegen die legitime Staatsgewalt (Syllabus PülX.
Mn. 63). Eine andere Frage ist, ob in Ausnahme-
zuständen als ultima ratio der bewaffnete Wider-
stand des Volkes erlaubt werden kann. Nicht bloß
die mittelalterliche und spätere Theorie vom
Staatsvertrage als der nächsten Ursache der staat-
lichen Autorität, sondern auch der richtige Grund-
satz, daß der gottgewollte Endzweck des Staates die
Ordnung und Wohlfahrt der Gesellschaft ist, hat
in der älteren katholischen Moral und Rechts-
philosophie zu der fast allgemeinen Folgerung ge-
führt, daß in der höchsten Not, bei heilloser Zer-
rüttung des öffentlichen Wohles das Volk als
Ganzes oder in seiner ermächtigten Vertretung,
wenn alle legalen Mittel erschöpft sind, zum Wider-
stande und nötigenfalls zur Absetzung des Herr-
schers und Anderung der Verfassung schreiten dürfe.
Dieselbe Ansicht vertraten in vergröberter Form
Luther, Kalvin, Knox und andere Reformatoren.
Seit den in England unter den Stuarts und später
in Frankreich weit ausgesponnenen Debatten über
die Rechte des Volkes und des Herrschers fand sie
Beifall bei zahllosen Gelehrten, wie Locke, Gro-
tius, Milton, Hume, Leibniz, v. Haller, Fried-
rich II., Washington, Franklin, Guizot, Dahl-
mann, Welcker, v. Mohl, Bluntschli, Treitschke,
Nothe, Ziegler, Lobstein u. a., während die meisten
katholischen Theologen der neuesten Zeit — wenig-
stens in Deutschland — mit Kant, Schleiermacher,
Stahl u. a. für die absolute Unerlaubtheit der
Revolution eintreten. Zur Kritik sei bemerkt, daß