Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

443 
verantwortlichen Persönlichkeit zum Grundpfeiler 
der Zivilisation. Diese geistige Befreiung der 
Einzelpersönlichkeit kam auch der Gemeinde zu- 
gute. Das germanische Mittelalter bedeutet den 
Höhepunkt und selbst eine Überspannung der Ge- 
meindefreiheit. Viele Städte behauptelen nicht 
nur siegreich ihren gemeindlichen Wirkungskreis, 
sondern erwarben dazu eine weitgehende Unab- 
hängigkeit innerhalb des Staates, die sich in den 
freien Städten des deutschen Reiches zur Ausbil- 
dung halbsouveräner Stadtstaaten steigerte. Die 
der Landeshoheit unterworfen gebliebenen Städte 
und die Landgemeinden behielten wenigstens auf 
wirtschaftlichem Gebiete eine weitgehende Selb- 
ständigkeit. Auf dem Boden dieser Gemeinde- 
freiheit bildete sich in dieser Zeit jener echte 
Bürgersinn und jene großartige Wirksamkeit der 
Städte aus, welche eine der hervorstechendsten Be- 
sonderheiten der Kultur des germanischen Mittel- 
alters war. 
Eine entgegengesetzte Bewegung begann in 
Deutschland mit der Ausbildung des Terri- 
torialstaates, namentlich seit der Reforma- 
tion, in Frankreich schon früher mit der Erstarkung 
der Monarchie. Dort benutzten die Territorial= 
herren, hier die Könige zunächst die Städte, um 
die Macht der großen Vasallen zu brechen, und 
begünstigten die städtische Selbständigkeit, solange 
sie ihrer zu diesem Zwecke bedurften. Nachdem die 
Macht der Vasallen aber gebrochen und der eigenen 
zugewachsen war, wandten sie sich auch gegen die 
Städte, um sie als unterworfene Glieder ihrem 
Territorium einzuverleiben. Namentlich gelang 
dieses Vorgehen in den deutschen Territorien, 
nicht ganz so vollständig in Frankreich, am wenig- 
sten in England, wo eine ausgedehnte Gemeinde- 
freiheit ohne wesentliche Unterbrechungen bis auf 
den heutigen Tag sich erhalten hat. In den 
größeren deutschen Territorien gelang diese Unter- 
drückung seit dem Dreißigjährigen Krieg und der 
Ausbildung des Polizeistaates so vollständig, 
daß von einer Selbständigkeit der Gemeinden in 
keiner Weise mehr geredet werden konnte: die 
städtischen Magistrate wurden vom Landesherrn 
ernannt, das Eigentum der Gemeinden als Eigen- 
tum des Staates, die Gemeindeangelegenheiten 
als eine Abteilung der staatlichen innern Polizei, 
die Gemeinde lediglich als ein Verwaltungsbezirk 
des Staates, ja geradezu als eine Anstalt des 
Staates betrachtet. 
Am weitesten ging die Bevormundung der Ge- 
meinden durch den alles regierenden Staat in 
Preußen, wo deshalb auch die Reform zu gesun- 
deren Zuständen zuerst sich Bahn brach. Die 
Maßregeln des Freiherrn von Stein seit 1808 
bilden hier den Wendepunkt. Der aufkommende 
Rechtsstaat gab der Gemeinde die ihr gebüh- 
rende rechtliche Stellung in ganz Deutschland 
wieder. Doch blieb Preußen mit der Lösung der 
gemeindlichen Kräfte zu freiem, selbsttätigem 
Leben an der Spitze, indem es durch seine Ver- 
Gemeinde. 
444 
waltungsreform seit 1872 einen wichtigen Teil 
der allgemeinen Landesverwaltung und der Ver- 
waltungsgerichtsbarkeit, wie andern kommunalen 
Selbstverwaltungskörpern, so auch den für die Er- 
füllung dieser Aufgaben genügend großen Städten 
als selbständigen Stadtkreisen übertrug. Unter dem 
Einfluß dieser Bewegung hat sich auch die Land- 
gemeinde aus einer rein wirtschaftlichen Gemein- 
schaft emporgearbeitet zu einer öffentlich-rechtlichen 
Korporation mit politischen Rechten und politischer 
Selbständigkeit. 
III. Die Selbständigkeit der heutigen Ge- 
meinde in Deutschland und ganz ähnlich in 
Osterreich-Ungarn findet ihren Ausdruck zunächst 
darin, daß die Gemeinde anerkannt ist als eine 
juristische Person sowohl auf dem Gebiete des 
bürgerlichen wie auf dem des öffentlichen Rechts. 
Als juristische Person des bürgerlichen Rechts ist 
die Gemeinde selbständige Trägerin von Ver- 
mögensrechten und berechtigt zur selbständigen 
Verwaltung ihres Vermögens sie hat die Fähig- 
keit, alle Arten privater Rechtsbefugnisse durch ihre 
Organe auszuüben und im Prozeßwege zu ver- 
solgen. Als juristische Person des öffentlichen 
Rechts hat sie die Fähigkeit, Trägerin von öffent- 
lichen Rechten und Befugnissen zu sein; sie hat 
das Recht, innerhalb der gesetzlichen Grenzen sich 
selbst eine Verfassung zu geben und sie abzuändern; 
sie hat das Recht der eigenen Wahl und Anstellung 
ihrer Beamten und der eigenen Besorgung ihrer 
öffentlichen Angelegenheiten; sie ist als solche so- 
dann Inhaberin eines Herrschaftsrechts über ihre 
Bürger und ihr Gebiet, eine wahre Obrigkeit, der 
die Bürger ebenso unterworfen sind wie der staat- 
lichen Obrigkeit. In letzterer Eigenschaft hat sie 
das Recht, bindende Vorschriften zur Ordnung. 
des Gemeindelebens zu geben, ihre Mitglieder zur 
Besorgung der Gemeindeangelegenheiten heran- 
zuziehen und die Kosten zur Befriedigung ihrer 
Aufgaben von ihren Mitgliedern zu erheben. 
Endlich hat sie die Ortspolizei, in der Ausdeh- 
nung, wie das preuß. Allgem. Landrecht in TI II, 
Titel 17. § 10 sie ganz richtig bestimmt, also die 
selbständige Sorge „für die Erhaltung der öffent- 
lichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung und die 
Abwendung der dem Publico oder einzelnen Mit- 
gliedern desselben bevorstehenden Gefahren“. Den 
Kreis dieser Rechte pflegt man zusammenzufassen 
mit dem Ausdruck: Selbstverwaltung der Ge- 
meinde. Es widerspricht diesen Grundsätzen, wenn 
die Gemeindebeamten als „mittelbare Staats- 
beamte“ behandelt werden oder die Ortspolizei, 
wie in manchen Städten Preußens, durch könig- 
liche Beamte verwaltet wird. 
Alle diese Rechte hat die Gemeinde in ihrer 
Ausübung jedoch nur unter einer geordneten 
Aufsicht des Staates. Diese findet ihre for- 
melle Begründung darin, daß die Gemeinde als 
ein organisches Glied des Staates der Oberhoheit 
desselben unterworfen ist, und ihre materielle 
Rechtfertigung darin, daß der Staat als Ganzes 
  
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.