Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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denselben behindert oder geschädigt werde. In 
engerer Bedeutung geht dasselbe entweder als 
Privatrecht auf das rechtmäßige Handeln der ein- 
zelnen Privatpersonen in ihrem gegenseitigen Ver- 
hältnis untereinander und ist dann das Recht im 
strengsten Sinne, oder es bezieht sich auf das rich- 
tige Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft und 
dieser zu jenem und ist dann das öffentliche Recht. 
Das Recht selbst wird so entweder im objektiven 
Sinne genommen als die gesetzliche Norm für die 
Rechte oder im subjektiven Sinne als Berechtigung 
oder Befugnis. 
Die Gerechtigkeit ist die erste und wichtigste 
Tugend zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen 
Ordnung besonders für diejenigen, welche durch 
Handhabung der regierenden, gesetzgebenden, rich- 
terlichen und strafenden Gewalt die menschliche 
Gesellschaft zu leiten haben. Daher das Wort: 
Lustitia est fundamentum regnorum. Wie aber 
jede menschliche Tugend erst aus ihrem Grunde 
und Ideale in Gott begriffen wird, so erfassen 
wir auch das Wesen der Gerechtigkeit erst dann, 
wenn wir sie als ein Nachbild der göttlichen Ge- 
rechtigkeit, und das menschliche Recht als einen 
Reflex der von Gott festgesetzten Ordnung er- 
kannt haben. Gott ist gerecht, weil er jedem das 
Seinige gibt, aber nicht bloß seinen Geschöpfen 
das ihnen als Lohn oder Strafe Gebührende er- 
teilt, sondern zuoberst das ihm selbst von seinen 
Geschöpfen Gebührende sich zuerkennt und fordert. 
Die Beziehung zu einem andern (ad alterum) 
fehlt somit auch nicht bei der göttlichen Gerechtig- 
keit; ja sie findet sich sogar bei der auf ihn selbst ge- 
richteten Gerechtigkeit, indem er für sich den schul- 
digen Tribut von seinen Geschöpfen will (Thomas 
v. Aquin, Summa theol. 1, q. 21, a. 3). Aber 
sie findet sich noch deutlicher bei der Gerechtigkeit 
Gottes gegen die Geschöpfe, kraft welcher er das 
Gute belohnt und das Böse bestraft, seine Güter 
unter die Geschöpfe nach einem richtigen Verhält- 
nis verteilt. Während die Liebe Gottes seine eigene 
absolute Vollkommenheit zum Objekte hat, geht 
hingegen die Gerechtigkeit auf das richtige Ver- 
hältnis derselben zu den endlichen geschaffenen 
Gütern sowie auf das richtige Verhältnis dieser 
zueinander. — Über die göttliche Gerechtigkeit s. 
Pohle, Lehrbuch der Dogmatik 1/ (1908) 227 f. 
Die menschliche Gerechtigkeit wird daher ein 
Nachbild der göttlichen erst dann, wenn auch sie 
in erster Instanz Gott das ihm Gebührende gibt 
und sodann auch den Mitmenschen. Gott können 
wir jedoch nur annäherungsweise den ihm schul- 
digen Tribut darbringen, sei es in den Akten der 
Gottesverehrung oder in den übrigen sittlich guten 
Werken, die wir zu Akten der Gottesverehrung 
und der Gerechtigkeit gegen Gott erheben; dennoch 
können wir ihm niemals das in entsprechender 
Weise vergelten, was wir von ihm empfangen 
haben. Das vornehmliche Objekt für die mensch- 
liche Tugend der Gerechtigkeit ist und bleibt daher 
das für die Mitmenschen Gerechte oder das Recht 
Gerechtigkeit. 
  
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des Nächsten, welches jedoch wiederum in Gott 
seinen Grund hat, ein Abglanz der von Gott ent- 
worfenen Rechtsordnung und von Gott mit der 
Berechtigung ausgestattet ist, die Forderungen des 
Rechts zu erzwingen. Während die Erörterung der 
Gerechtigkeitspflichten gegen Gott mehr in das 
Gebiet der Ethik und Moraltheologie gehört, hat 
hingegen der Begriff der Gerechtigkeit der Men- 
schen untereinander sowie gegen den Staat auch 
in der Jurisprudenz und Staatswissenschaft eine 
Stelle, und in diesem engsten Sinne nehmen auch 
die Rechtsgelehrten die Begriffsbestimmung, welche 
oben Ulpian von der Gerechtigkeit gegeben hat. 
Recht im objektiven Sinne ist der Inbegriff 
der Gesetze, welche die Rechte und Rechtspflichten 
genau bestimmen, und somit die Norm auch für die 
Gerechtigkeit. Diese Rechtsnorm hat ihre bewir- 
kende ideale und finale Ursache ebenso in der lex 
aeterna wie das Sittengesetz überhaupt (vgl. E. 
Seydl, Das ewige Gesetz in seiner Bedeutung für 
die physische u. sittliche Weltordnung (1902|). Sie 
ist entweder unmittelbar von Gott aufgestellt oder 
mittelbar durch die rechtmäßige Autorität in Kirche 
und Staat und kann eben nur von Gott die ver- 
pflichtende Kraft erhalten, weil wir nur die von 
ihm uns auferlegte Pflicht als solche in unserem 
Gewissen anerkennen können. Demgemäß gibt es 
ein Naturrecht (ius naturae), welches jedem Men- 
schen angeboren ist und von seiner Vernunft als 
verpflichtend anerkannt wird; ferner ein ius gen- 
tium, welches alle Kulturvölker als eine notwendige 
Folgerung aus den obersten Grundsätzen des Na- 
turrechts und deshalb ebenfalls als bindende Norm 
anerkennen; zuletzt ein positives Recht (jus posi- 
tiwum), welches entweder von Gott oder von der 
rechtmäßigen Autorität in Kirche und Staat mit 
freiem Willen aufgestellt worden ist (ius positi- 
vum divinum, eccelesiasticum, civile). — Vgl. 
F. Walter, Naturrecht u. Politik (21871) 66 f; 
J. Haring, Der Rechts= u. Gesetzesbegriff in der 
katholischen Ethik u. modernen Jurisprudenz 
(1899); V. Cathrein, Moralphilosophie I/(1904) 
319 ff; ders., Recht, Naturrecht u. positives Recht 
1901). 
2. Arten der Gerechtigkeit. Bei der Ver- 
schiedenheit der Rechtsbeziehungen innerhalb der 
gesellschaftlichen Ordnung unterscheidet man eine 
dreifache Gerechtigkeit: die ausgleichende (justitia 
commutativa), die legale (justitia legalis) und 
die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distribu- 
tivah). Dieiustitia commutativa hat das Privat- 
recht, d. h. das dem einzelnen Menschen seinen 
Mitmenschen gegenüber zustehende strenge Recht 
(ius strictum) zum Objekte und legt eine so 
strenge und so genau umschriebene Pflicht auf, daß 
sich aus der Verletzung derselben die Restitutions- 
pflicht ergibt. Das letztere ist noch nicht der Fall 
bei einer Verletzung der iustitia legalis, welche 
das allgemeine Wohl (bonum commune) der 
menschlichen Gesellschaft zum Objekte hat und 
das Verhältnis der Einzelperson zur Allgemein- 
—
	        
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