Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

507 
den streitigen Prozeß (für den Strafprozeß ist es 
ausgeschlossen) als außerordentlicher Gerichtsstand 
das forum prorogatum, d. h. ein von den Par- 
teien frei gewählter Gerichtsstand Anwendung, da 
Kleriker, denen ein Verzicht auf das privilegium 
fori nicht freisteht, sich durch Prorogation nicht 
der bischöflichen Jurisdiktion entziehen dürfen und 
daher nur innerhalb der Diözese mit Erlaubnis 
des Bischofs auf ein geistliches Gericht prorogieren 
können. 
5. Kanonisches Prozeßverfahren. Auf 
das bis ins kleinste geregelte Verfahren kann hier 
nicht näher eingegangen werden; es sei daher nur 
hervorgehoben: an Stelle des ordentlichen strei- 
tigen Prozesses, welcher auf den Grundsätzen 
der Schriftlichkeit und der Verhandlungsmaxime 
beruht und sich in drei Stadien vollzieht: Vor- 
verfahren oder Schriftenwechsel, Beweis= oder 
Hauptverfahren, Urteil mit Vollzug, ist in den 
meisten Fällen das summarische Verfahren ge- 
treten, welches in möglichster Beschleunigung des 
Prozesses unter Beibehaltung des wesentlichen, 
besonders der drei Stadien und der Verhandlungs- 
maxime besteht. Ebenso ist an Stelle des ordent- 
lichen Strafprozesses, welcher seit Inno- 
zenz III. nicht mehr ein Akkusations-, sondern ein 
Inquisitionsverfahren ist (ogl. auch d. Art. Straf- 
prozeß), durch die Instruktion der Congr. Episc.et 
Reg. vom 11. Juni 1880 das summarische Straf- 
und Disziplinarverfahren getreten, welches unter 
Beibehaltung der Grundsätze des Inquisitions- 
prozesses, so namentlich des der Schriftlichkeit, 
zunächst für Disziplinar= und Strafsachen der 
Geistlichen vorgeschrieben ist, aber auch Anwen- 
dung gegen Laien finden kann, ohne jedoch dem 
ordentlichen Inquisitionsverfahren zu derogieren. 
Die Instruktion unterscheidet ein außergerichtliches 
und ein gerichtliches Verfahren. Ersteres bezweckt, 
dem Übel durch geistliche Ubungen, Ermahnungen 
usw. vorzubeugen, bei schweren geheimen Vergehen 
den Delinquenten zu bessern: monitio paterna, 
sententia ex informata conscientia. Nutzen 
diese Mittel nichts, oder ist das Verbrechen bereits 
ein öffentliches, Argerniserregendes geworden, dann 
findet zur Sühne desselben der gerichtliche sum- 
marische Strafprozeß Anwendung, welcher sich in 
die monitio canonica, die Voruntersuchung, die 
gerichtliche Inquisition und den Schlußtermin mit 
der Urteilsfällung gliedert. — An Beweis- 
mitteln kennt der kanonische Prozeß: Zeugen, 
Urkunden, Eid, richterlicher Augenschein, Gutachten 
von Sachverständigen und Indizien. 
6. Die Rechtsmittel (remedia iuris) zer- 
fallen in ordentliche, welche innerhalb der Notfrist 
von zehn Tagen eingelegt werden müssen, und 
außerordentliche, welche nicht an diese Frist ge- 
bunden sind, ferner in devolutive und nicht de- 
volutive, je nachdem die Sache an eine höhere 
Instanz geht oder nochmals vor derselben Instanz 
verhandelt wird, endlich in suspensive oder nicht 
suspensive, je nachdem die Exekution des rtteils 
  
  
Gerichtsbarkeit, kirchliche. 
508 
aufgeschoben wird oder nicht. Gegen das ungerechte, 
aber noch nicht rechtskräftig gewordene Urteil ist 
das ordentliche Rechtsmittel der Appellation 
an den höheren kirchlichen Richter (der Papst kann 
in allen Fällen als Appellationsinstanz ange- 
gangen werden) gegeben, welche in drei Stadien 
verläuft: Einlegung oder Anmeldung, Einführung 
und Ausführung oder Rechtfertigung. Die außer- 
gerichtliche Appellation (appellatio extraiudi- 
cialis, provocatio ad causam) oder Rekurs 
wird nicht gegen eine gerichtliche, sondern gegen 
eine außergerichtliche Sentenz, gegen eine juris- 
diktionelle Verwaltungshandlung eingelegt. Als 
außerordentliche Rechtsmittel kommen in Betracht: 
die Nichtigkeitsbeschwerde (querela nul- 
litatis) gegen ein infolge eines Formmangels un- 
gültiges Urteil, welche erst nach 30 Jahren ver- 
jährt; ferner die Wiedereinsetzung in den 
vorigen Stand (restitutio in integrum), 
welche aus Billigkeitsrücksichten, die eine laesio 
enormis und eine iusta causa voraussetzen 
(Minderjährige, kirchliche Anstalten, Abwesende 
bei genügender Entschuldigung, Verurteilung auf 
Grund falscher Zeugen, Betruges usw.), ein gül- 
tiges und rechtskräftig gewordenes Urteil wieder 
aufhebt. Die Einlegung der Beschwerde ist an die 
Frist von vier Jahren nach Beendigung der Min- 
derjährigkeit, nach Entdeckung der Nachteile usw., 
von 20 Jahren bei gefälschten Beweismitteln ge- 
bunden. Endlich besteht gegen ein inappellables 
Urteil als außerordentliches Rechtsmittel noch die 
Revision (supplicatio, retractatio oder re- 
visio), d. h. die an den Papst gerichtete Bitte, 
eine Sache, in der nicht mehr appelliert werden 
kann, nochmals verhandeln zu lassen, welcher je- 
doch nur aus sehr gewichtigen Gründen statt- 
gegeben wird. 
7. Was schließlich die Gerichtsbarkeit in 
derevangelischen Kirche anlangt, so wurde 
zwar anfänglich jede kirchliche Gerichtsbarkeit ab- 
gelehnt, aber doch schon im 16. Jahrh. aus prak- 
tischen Gründen eine Ehegerichtsbarkeit gefordert 
und auch staatlicherseits gewährt, bis dann nach 
Errichtung der Konsistorien auch die evangelische 
Kirche Gerichtsbarkeit über Patronatsrecht, Par- 
ochialverhältnisse, Kirchendermögen, Güter und 
Person der Geistlichen erlangte. Unter der Herr- 
chaft des Territorialsystems aber verloren die 
Konsistorien in Deutschland ein Stück ihrer Zu- 
ständigkeit nach dem andern an die weltlichen 
Gerichte, bis schließlich auch die teilweise noch bis 
in die jüngste Zeit festgehaltene Ehegerichtsbarkeit 
durch das Reichsrecht beseitigt wurde. Eine wirk- 
liche Strafgerichtsbarkeit hat die evangelische Kirche 
nur vorübergehend unter der Herrschaft des Epi- 
skopalsystems besessen, die sie in der Zeit des Ter- 
ritorialsyustems wieder verlor. Aber auch die 
Kirchenzucht, d. h. das kirchliche Einschreiten 
gegen schwere sittliche und religiöse Verfehlungen 
ihrer Glieder, welche durch Gotteslästerung, Ehe- 
bruch, Unzucht, Verletzung christlicher und kirch- 
  
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.